Schreibwettbewerb: Lust & Frust des Schreibens

Christa Forman

Die Hausarbeit

Sie starrte auf den Bildschirm ihres Laptops. Ein neues Worddokument war geöffnet. Der Mauscursor blinkte auf der leeren Seite unbarmherzig auf. Das Weiß blendete Sie gerade. Es war Freitag, ihr freier Tag. Sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tag endlich mit dem Schreiben ihrer Hausarbeit anzufangen. Es wurde auch allerhöchste Zeit, Abgabe war in genau einer Woche.

Heute wird also gestartet. Sie hatte es immerhin geschafft, kurz nach neun aufzustehen, für sie als Langschläferin schon eine enorme Herausforderung. Gut, nur noch schnell fürs Wochenende einkaufen und Wäsche waschen, ihr ging die Unterwäsche allmählich aus. Sie bekräftigte sich selbst, dass das dringende Sachen waren, die sie erledigen musste. Sie hatte sich fest vorgenommen, heute wirklich nur die nötigsten Sachen zu machen. Keine Ablenkungen! Also kauerte sie sich auf ihr Bett, kuschelte sich in ihre Decke und nahm ihren Laptop auf den Schoß. Für sie war das die einzige Art zu arbeiten. Vielleicht nicht sehr rückenfreundlich, aber gemütlich. Ihr Schreibtisch war sowieso belagert. Es stapelten sich unzählige ungelesene Bücher aus der Bibliothek, alle schon dreimal verlängert. Daneben ihre „Ablage“. Wobei, um ehrlich zu sein, der ganze Schreibtisch als eine Art Ablage für alles funktionierte, wofür sie im Moment keine Verwendung wusste und sich später darum kümmern wollte. Man sah nicht viel freie Fläche auf diesem Schreibtisch.

Gedankenvoll kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Sie könnte ja mal mit einem Deckblatt anfangen. Name, Matrikelnummer, Modulnummer, Datum der Abgabe, Titel der Arbeit, Prüfer*in, … Sie überprüfte die Angaben mit den Vorgaben und atmete einmal tief durch. War doch gar nicht so schwer, das Deckblatt stand. Ihr Blick wanderte in ihrem Zimmer umher und blieb an den Krümeln und Haaren hängen, die sich munter auf dem Boden verteilten. Wann hatte sie das letzte Mal sauber gemacht? Sie stellte den Laptop beiseite, schob die Decke zurück und stand auf. Sie schielte auf ihr Worddokument. Im Grunde genommen hatte sie bereits etwas für ihre Hausarbeit getan, dann konnte sie jetzt auch schnell ihr Zimmer durchwischen und vielleicht auch gleich das Bad. In einem frisch geputzten Zimmer arbeitete es sich doch bestimmt gleich viel besser. Sie schnappte sich Eimer und Lappen und fing an.

Eine Dreiviertelstunde später. Die Kacheln im Bad glänzten, in der Wasserarmatur konnte man sich spiegeln und der Boden war rein. Sie schaute auf die Uhr. Zeit, nach der Wäsche zu schauen und sie aufzuhängen. Bis jetzt hatte sie wirklich nur notwendige Dinge erledigt. Sie hatte heute noch keine einzige Folge „The Walking Dead“ geschaut oder irgendeinen Film geschaut. Sie war echt stolz auf sich, als sie sich hinab in den Keller zu den Waschmaschinen begab.

Frohen Mutes setzte sie sich wieder an ihren Laptop. Zurück zur Hausarbeit. Weiter mit der Gliederung oder sollte sie erst einmal ihre Gedanken zur Einleitung drauf los schreiben? Wie groß müssen eigentlich die Seitenränder eingestellt sein? Es gab doch eine Anleitung für Hausarbeiten auf der Website ihrer Hochschule. Vielleicht war es besser, sich erst einmal mit dieser vertraut zu machen, bevor sie los schrieb, schließlich war das ihre erste Hausarbeit in ihrem Studium. Ihr Kopf war voller Fragen. Sie überlegte, ob sie einige davon in ihrem begleitenden Kurs zur Hausarbeit beantwortet bekommen hätte. Anfangs war sie noch hin gegangen, aber bald ließ sie es schleifen und da sie im Kurs nicht zugeben wollte, dass sie noch gar nichts gemacht hatte, mal abgesehen davon, sich ein Thema auszusuchen, schwänzte sie ab da. Immerhin war das mit dem Thema abgeklärt. Sie lehnte ihren Kopf an die Wand und schaute zur Decke. All diese Überlegungen waren jetzt überflüssig. Der Kurs war vorbei, Abgabe war in einer Woche, sie hatte bis jetzt ein Deckblatt und sich zwei Mal die Regeln zur richtigen Zitation durchgelesen. All das war nicht mehr zu ändern. Sie spürte, wie ihr Herz allmählich schneller schlug. Konnte sie es überhaupt noch schaffen, rechtzeitig mit ihrer Arbeit fertig zu werden? In ihrer derzeitigen Verfassung schaffte sie es einfach nicht, irgendetwas nützliches aufs Papier zu bekommen.

Wieder einmal setzte sie ihren Laptop beiseite. Sie war schon ewig nicht mehr joggen gewesen. Normalerweise half ihr das, den Kopf wieder frei zu bekommen und sich zu beruhigen. Außerdem war es doch wichtig, in solch stressigen Zeiten den Sport nicht zu vernachlässigen. Das hatte sie schließlich in ihrem Kurs „Stressfrei durchs Studium“ gelernt. Zugegeben hatte sie dort auch gehört, rechtzeitig anzufangen und sich einen realistischen Plan mit ausreichenden Pausen zu machen. Sie lachte kurz auf. Dafür war es zu spät und für den zusätzlichen Stress war sie selbst verantwortlich. Sie schnürte ihre Laufschuhe.

Während sie langsam in den Auen entlang trabte, dachte sie an ihre Freundin Greta. Greta war natürlich bereits fertig mit ihrer Arbeit und hatte sie gefragt, ob sie drüber lesen könnte, natürlich nur, wenn sie Zeit dazu hätte. Klar hatte sie zu Greta "ja" gesagt. Ihr war natürlich bewusst, dass sie die Zeit lieber für ihre eigene Arbeit hätte nutzen sollen. Aber das Korrekturlesen war eine willkommene Ablenkung gewesen. Bevor sie Greta kannte, dachte sie nicht, dass solche Personen überhaupt existierten. Greta war immer super organisiert und schrieb sich für alles To-Do-Listen. Sie fing rechtzeitig an, für die Prüfungen zu lernen und natürlich auch bei ihrer Hausarbeit. Sie schaffte es, diese größtenteils innerhalb des Semesters zu schreiben. Die Arbeit immer in kleinen überschaubaren Päckchen betrachtend statt sich vom kompletten Berg einer Hausarbeit nervös machen zu lassen.

Es war nicht das erste Mal, dass sie Arbeiten so hatte schleifen lassen und kurz vor Abgabe noch nichts zu Papier gebracht hatte. Im Grunde genommen, war das bei ihr eher die Regel als die Ausnahme. Bisher hatte sie allerdings es dann doch noch irgendwie rechtzeitig geschafft, fertig zu werden. Meistens mit einem recht ordentlichen Ergebnis sogar. Brauchte sie also einfach diesen Druck, um arbeiten zu können? Das war schließlich auch eine Methode, vielleicht nicht die allerbeste, aber immerhin. In den letzten Wochen nervte sie allerdings extrem die Fragerei von ihren Kommiliton*innen. "Bist du schon fertig?" "Wie weit bist du?" "Wie viele Quellen hast du so benutzt?" "Bei meinem zweiten Untergliederungspunkt … Wie macht man das eigentlich?" Sie hatte bisher versucht, ausweichend zu antworten. Manchmal gab sie auch offen zu, keine Ahnung zu haben. Sie konnte doch wirklich nicht die Einzige sein, die noch nicht angefangen hatte, oder?

Sie lief an einer Wiese vorbei, dort saß Greta lachend von Freundinnen umringt auf einer Decke. Wahrscheinlich hatten die schon den Feierabend eingeleitet. Sie winkte ihnen zu. Greta hatte zu ihr gemeint, sie träfe sich diese Woche nicht mehr mit ihr, weil sie nicht als weiterer Ablenkungspunkt herhalten wollte. Sie solle doch endlich den Hintern hochbekommen und diese Arbeit schreiben. Einfacher gesagt als getan. Ein Grund nicht anzuhalten, Greta würde noch ausrasten, wenn sie erfuhr, dass sie bisher nur ein Deckblatt hatte. Greta verstand das einfach nicht.

Also wieder nach Hause, durch das Laufen hatte sie wieder etwas Hoffnung geschöpft. Jetzt noch eine heiße Dusche und danach vielleicht noch ein kleiner Snack, aber dann geht es wirklich zurück an den Laptop. Sie ließ den heißen Wasserstrahl über Kopf und Nacken laufen. Was war eigentlich ihr Problem? Das Modul, in der die Hausarbeit gefordert wurde, beschäftigte sich mit Nachhaltigkeit. Eigentlich genau ihr Thema. Sie wollte dabei Solidarische Landwirtschaft näher betrachten. Ihr guter Freund Tim hatte ihr bereits vor zwei Monaten ein paar Bücher dazu geliehen. Natürlich hatte sie auch in diese Bücher bisher noch keinen einzigen Blick geworfen. Sie hoffte einfach, dass darin schon etwas Brauchbares stehen würde.

Mittlerweile war es fast Abend. Die Seiten waren noch genauso leer wie am Morgen. Sie hatte gegoogelt, ob es auch das Gegenteil von Prokrastination gab: eine Art Zwang, mit allem weit vor Abgabetermin fertig zu werden. Wenn ja, war das dann wohl Gretas Problem. Schnell artete die Suche aber aus und sie las sich lieber Artikel zum Thema Prokrastination durch. Sie fand dort nichts besonders Hilfreiches. Außerdem brauchte sie jetzt eher ein Wunder, noch rechtzeitig die Hausarbeit hinzubekommen, als ein paar dämliche Tipps zu Lernmodellen und Abwägen der Wichtigkeit. Alles schon gehört und gekonnt ignoriert.

Im Grunde genommen konnte es doch nicht so schwer sein. Bei manchen Studierenden hatte sie den Eindruck, dass die echt nicht fürs Studium geeignet seien. Die wussten ja oft nicht einmal absolute Basics. Wenn die so weit kamen, müsste sie es doch erst recht schaffen. Sie war doch nicht dumm. Auch das Schreiben an sich lag ihr. Sie war eher sparsam, wenn es darum ging, sich selbst Talente zuzuschreiben, aber schreiben konnte sie. Gerade wenn sie sich manchmal durchlas, was andere so verzapften. Es lag also nicht daran und auch nicht am Thema, doch die Seiten blieben leider weiß.

Sie stand wieder auf und machte ein paar Hampelmänner. Den Kreislauf anregen. Ein Plan musste her. Vorher aber musste sie unbedingt noch bei dieser Onlineumfrage zum Thema Laufschuhe teilnehmen. Man konnte dabei 10.000 € gewinnen. Geld, das sie gut gebrauchen konnte.

An ihren Fingern zählte sie die noch verbleibenden Tage ab. Freitag war um 12 Uhr Abgabe im Sekretariat, also konnte sie den Tag schon mal weglassen. Heute hatte sie auch bereits schon aufgegeben. Blieben noch genau sechs Tage. Absolutes Minimum, was sie schreiben musste, waren 13 Seiten. Das hieß gute zwei Seiten pro Tag, bei einem Abstand von anderthalb Zeilen, das müsste doch zu schaffen sein. Theresa hatte ihr versprochen, über ihre Arbeit zu lesen. Sie könnte ihr die Seiten Montagabend schicken, um schon mal einen ersten Eindruck zu bekommen. Auch konnte sie ihren Bruder fragen, ob er ein paar Seiten anschauen könnte. Es könnte allerdings sein, dass das eher frustrierend für sie wäre. Schließlich saß ihr Bruder gerade an seiner Doktorarbeit in Physik (irgendwas mit Lasern, weiter hatte sie das Thema nicht verstanden) und setzte bestimmt andere Standards an, was wissenschaftliches Arbeiten betraf. Ihr Vater war sicherlich bereit, am Ende noch einmal Korrektur zu lesen. Er liebte es, Leute zu verbessern, auch wenn seine Tochter Donnerstagnacht um halb zwölf anrief, mit der Frage, ob er schnell mal kurz über ihren Text lesen könnte. Hatte er alles schon gemacht. Aus Zeitgründen erfolgte dann das Verbessern am Telefon. Er diktierte ihr seine Anmerkungen und sie schrieb. Das konnte dann auch schon mal bis halb zwei gehen. Einer der Momente, in der sich ihre Handyflat wirklich auszahlte. Und natürlich der Vorteil, dass alle in ihrer Familie eher Nachteulen waren.

Sie würde es also schon irgendwie hinbekommen. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich spätestens Montag solche Panik bekommen würde, dass sie in tränenaufgelöst ihre Mutter anrief und ihr Leid klagte, sie würde es niemals schaffen. Bei schlimmer Prokrastination war es äußerst hilfreich, ein gutes soziales Backup zu haben. Sie nahm sich vor, bei ihrer nächsten Hausarbeit alles anders zu machen. Sie würde rechtzeitig anfangen, einen Plan schreiben, sich daran orientieren, wie weit Greta schon war.

Sie seufzte. Heute bekam sie sowieso nichts mehr zu Papier. Sie loggte sich in ihrem Amazon Prime Account ein und startete eine neue Folge "The Walking Dead". Sie nahm sich vor, bis maximal Mitternacht zu schauen, um morgen früh nicht allzu spät aufzustehen. Morgen würde sie endlich richtig anfangen. Auf jeden Fall. Ohne jeglichen Ablenkungen. Ganz bestimmt.

In den Schleifen der Prokrastination

"Prokrastination kann sehr vielschichtig sein – und genau das ist es, was in der Atmosphäre dieses Textes für mich mitschwang. Ich war als Leserin auf Spannungshügeln unterwegs: Von Moment zu Moment hoffte ich, dass die Protagonistin es vielleicht doch ein bisschen stärker versucht und dass sie es schafft, wenigstens ein paar Sätze in ihr Word Dokument zu tippen. Aber dazu kommt es nicht, und so beißt sich die Katze in den Schwanz. Es geht hier auch gar nichts um das 'Versuchen' oder dass es trügerischer Weise nach außen so wirken kann, dass sie es selbst nicht genug wollen würde. Wahrscheinlich ist nämlich genau das Gegenteil der Fall."