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Region geht neue Wege bei Ernährungsberatung und -therapie

10.11.2022

Durch intensive Kooperation haben Wissenschaft und Praxis die Weichen für mehr Versorgungsqualität in Osthessen gestellt.

Damit aus theoretisch-wissenschaftlichen Konzepten praxistaugliche Lösungen entstehen, braucht es enge Zusammenarbeit und viel Engagement. Denn Wissenschaft und Praxis haben unterschiedliche Perspektiven. Wie die Kooperation gelingt, wie sich Hürden überwinden lassen und am Ende eine ganze Region von besseren Versorgungsstrukturen profitiert, haben Wissenschaftlerinnen und Akteur*innen im Bereich der Ernährungsberatung und -therapie im Modellprojekt für die diätetische Versorgung im Raum Fulda (MoDiVe) gezeigt.  

Viele der weit verbreiteten chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus sind die Folge unseres Lebensstils, vor allem unserer Ernährung. Ernährungsberatung und -therapie spielen folglich für Prävention und Behandlung eine zentrale Rolle. Wer über eine hohe Ernährungskompetenz verfügt, kann das Risiko für Erkrankungen reduzieren und bestehende Erkrankungen lindern. Ernährungskompetenz sorgt damit für Lebensqualität. Da die ernährungsmitbedingten Erkrankungen rasant zunehmen, ist der Handlungsbedarf groß. Doch bislang bleibt viel Potenzial ungenutzt.
Was ist wirksam?

Der Grund: Diätetik ist als wissenschaftliche Disziplin noch sehr jung. Es fehlt an wissenschaftlichen Wirkungsnachweisen und an Wissen, welche Interventionen unter welchen Bedingungen den größten Erfolg für Betroffene bringen. Ernährungsfachkräfte müssen sich deshalb vor allem auf ihre Erfahrungen, ihr Expert*innen-Wissen verlassen. Auch Daten, die wissenschaftlich ausgewertet werden können, stehen noch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, weil Ernährungsberatung und -therapie bisher nicht einheitlich und teilweise unvollständig dokumentiert werden.

„Nur was dokumentiert ist, lässt sich überprüfen und weiter nutzen“, beschreibt Professorin Dr. Kathrin Kohlenberg-Müller von der Hochschule Fulda den Kern des Problems. Die Ernährungswissenschaftlerin leitet das Modellprojekt für die diätetische Versorgung im Raum Fulda und sagt: “Vor allem für die Schnittstelle zwischen stationärem und ambulantem Bereich brauchen wir Entlassbriefe, in denen die Maßnahmen der Ernährungsberatung und -therapie nach einem einheitlichen Standard dokumentiert sind. Hausärzt*innen und ambulante Ernährungsfachkräfte können dann direkt daran anschließen.“

Mehr Qualität durch Daten

Eine umfassende Dokumentation und ein strukturiertes, standardisiertes Vorgehen, das beide Sektoren – ambulant wie stationär – einschließt, sind damit der Dreh- und Angelpunkt für mehr Qualität in der Versorgung. „Wenn wir mehr über die Wirkung von Maßnahmen wissen, dann lassen sich Interventionen nicht nur viel besser planen, wir können die Maßnahmen auch besser personalisieren.“ Das helfe nicht nur Patient*innen und Klient*innen. Das sei auch erheblich kosteneffizienter und verschaffe der Diätetik zudem einen gesundheitspolitisch größeren Stellenwert. 

Wissenschaftlerinnen und Praxispartner*innen aus der Region haben daher gemeinsam ein Modell für prozessgeleitetes Handeln implementiert. Solche Modelle entsprechen den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und werden unter anderem von den Berufsverbänden empfohlen. Mit ihrer Hilfe kann die Ernährungsberatung und -therapie nun standardisiert und zugleich auf die persönlichen Bedarfe und Bedürfnisse der Patient*innen und Klient*innen ausgerichtet werden. Damit werden Empfehlungen zur Behandlung nachvollziehbar und lassen sich kontinuierlich optimieren.

Fünf Schritte sieht das Prozessmodell vor:

  1.  die differenzierte Erfassung der individuellen Situation mit Krankengeschichte, Ernährungsgewohnheiten, Lebensverhältnissen und persönlichem wie beruflichem Umfeld (Assessment),
  2. die Diagnose,
  3. die Planung der Intervention sowie
  4. die Umsetzung der Maßnahmen und
  5. die Evaluation.

Kompromisse gefordert

Was einfach klingt, gestaltet sich komplex. „Für uns war klar, dass wir die Perspektive der Praxis von Anfang an vollumfänglich einbeziehen und Kompromisse machen müssen, wenn das Modell in der Praxis greifen soll“, erläutert Professorin Dr. Kohlenberg-Müller. Denn wissenschaftliche Konzepte sind zunächst Theorie, sie definieren Maximalanforderungen. Ernährungsfachkräfte in der Praxis hingegen müssen zahlreiche Rahmenbedingungen berücksichtigen. Für sie zählt vor allem, dass das Modell in ihren Alltag passt.

„Da zeigten sich an der ein oder anderen Stelle Schwierigkeiten“, berichten Maren Peuker und Laura Hoffmann, die beide als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda im Projekt mitarbeiteten. Zum Beispiel signalisierten die Praxispartner*innen, es sei schwierig zu Beginn einer Beratung so viele Daten zu erheben. Patient*innen bzw. Klient*innen wünschten sich vielmehr eine sofortige Intervention. Auch aus dem stationären Bereich kam die Rückmeldung, das Assessment sei zu zeitaufwendig und müsse deutlich reduziert werden. „Das war herausfordernd: Wir wollten einerseits die wissenschaftlichen Erkenntnisse möglichst umfassend umsetzen, andererseits aber auch den Anforderungen der Praxis gerecht werden“, erzählen die beiden Nachwuchswissenschaftlerinnen. „Beim Assessment Abstriche zu machen, kann schnell die Qualität der Maßnahmen reduzieren“, beschreibt Laura Hoffmann den Konflikt.

Ein großer Schritt nach vorne

Durch intensiven Austausch gelang es, die Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen. „Wir haben alle Schritte gemeinsam reflektiert, alle Ergebnisse immer zur Diskussion gestellt, auch im Diätetikforum Fulda, der regionalen Plattform, die wir für den regelmäßigen Austausch aller Ernährungsfachkräfte in der Region eingerichtet haben“, erläutert Maren Peuker. So entstand ein schlankeres Modell für das Assessment, „ein goldener Mittelweg“ – ausführlich genug, um Qualität zu garantieren, schlank genug, um die Akzeptanz der Praktiker*innen sicherzustellen.

„Entscheidend für einen erfolgreichen Transfer ist es, alle Partner*innen mitzunehmen“, zieht Professorin Dr. Kohlenberg-Müller Bilanz nach fünf Jahren Projektlaufzeit. „Transfer bedeutet nicht nur, Wissen zu vermitteln, es ist auch ein sozialer Prozess.“ In Osthessen hat das Projekt gezeigt, dass sich mit einem kooperativen Ansatz die Spannungen zwischen Theorie und Praxis erfolgreich überwinden lassen. „Wir haben die Ernährungsberatung und -therapie in der Region einen großen Schritt nach vorne gebracht“, freut sich das Team.

Ende des Jahres 2022 wird das Modellprojekt für die diätetische Versorgung im Raum Fulda auslaufen. Die neu etablierten Strukturen bleiben bestehen. Alle Projektpartner*innen orientieren sich inzwischen an dem Prozessmodell. Damit leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Lebensqualität von Patient*innen und Klient*innen in der Region. Damit auch andere Regionen dem osthessischen Beispiel folgen können, haben die Wissenschaftlerinnen ihre Transfererfahrungen als Handlungsempfehlungen zusammengefasst. Denn: Je mehr Ernährungsfachkräfte sich an einer einheitlichen Dokumentation beteiligen, umso besser die Datenbasis für die Wissenschaft. Und je mehr wissenschaftliche Wirkungsnachweise umso höher die Versorgungsqualität.

Das sagen die Praxispartner*innen:

Karen Amerschläger
Praxis für Ernährung, ambulante Ernährungsberatung und -therapie

„Das Prozessmodell hilft, um den Beratungsprozess zu reflektieren. In der Anwendung braucht es Übung und Training, sodass Patient*innen nicht den Eindruck bekommen, ausgefragt zu werden. Zusätzlich braucht ein eher statisches Prozessmodell in der ambulanten Ernährungsberatung immer eine Anpassung an die individuelle Situation.“

Irmtraud Weidenbach
Klinikum Bad Hersfeld GmbH, Berufsfachschule für Diätetik

„Bislang hatten wir ein gutes Expert*innenwissen. Das Prozessmodell führt dieses Wissen nun auf wissenschaftlicher Basis zusammen, und damit können wir die Profession der Diätetik weiterentwickeln. Das ist für mich das Wichtigste.“

Professor Dr. Roland Radziwill
Klinikum Fulda, Apotheke und Ernährungszentrum

"Ich habe die Entwicklung des Dokumentationskonzepts für das Ernährungszentrum des Klinikums Fulda als sehr gewinnbringend empfunden. Wenn dieses in die Patient*innenakte eingebunden wird, können alle Professionen auf die Dokumentation der Ernährungsberatung und -therapie zugreifen. Das ist wichtig und sinnvoll. So kann es auch gelingen, das Angebot der Ernährungsberatung und -therapie sichtbarer zu machen."

Cornelia Adolphi
Herz-Kreislauf-Zentrum Rotenburg, stationäre Ernährungsberatung und -therapie

Auf Station haben wir wenig Zeit für Ernährungsberatung. Die Patient*innen sollten daher ambulant weiter beraten werden. Insgesamt sehe ich das Prozessmodell als gute Möglichkeit, den Stellenwert unseres Berufs zu erhöhen und unsere Arbeit sichtbarer zu machen bei der Behandlung des Ernährungsproblems.

Markus Otto und Michael Staubach
DRK-Kreisverband Fulda

"Durch die regelmäßigen Arbeitstreffen der MoDiVe-Kooperationspartner*innen wurde ein Raum für den Austausch verschiedener Akteur*innen im Bereich der Ernährungsberatung und -therapie geschaffen. Das war für uns sehr interessant und wertvoll."

Weitere Infos rund um Ernährungsberatung und -therapie


Auf seiner Website stellt das Modellprojekt für die diätetische Versorgung im Raum Fulda viele hilfreiche Materialien für die Bevölkerung zur Verfügung, unter anderem

  • eine Liste qualifizierter Ernährungsfachkräfte in der Region,
  •  einen Flyer mit Informationen, wann eine Ernährungsberatung und -therapie in Anspruch genommen werden kann
  •  saisonale Rezepte zum Nachkochen sowie
  •  einen Ernährungsquiz, mit dem sich die persönliche Ernährungskompetenz testen lässt.

www.hs-fulda.de/rigl-fulda/modive

 

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