A.U.S.W.E.G.

Aerztliche Dokumentation häuslicher Gewalt und Sensibilisierung der Gesundheitsversorgung - wissenschaftliche Evaluierung in der Gewaltprävention

gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Projektleitung:Prof. Dr. Beate Blättner, Prof. Dr. Annette Grewe

Wissenschaftliche Mitarbeiterin: M.Sc. Kerstin Krüger (Public Health)

Wissenschaftliche Hilfskraft: B.Sc. Elisabeth Hintz (Gesundheitskommunikation)

Laufzeit: 01.04.2007 - 30.09.2008

Kooperationspartner: Hessisches Sozialministerium, Landesärztekammer Hessen, Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Landeszahnärztekammer, Psychotherapeutenkammer

Partnergewalt zählt weltweit zu den entscheidenden Gesundheitsrisiken von Frauen. 

Seit etwa 10 Jahren werden auch in Deutschland die interventionellen Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung zum Gesundheitsschutz von Gewaltopfern diskutiert. Neben der Behandlung von konkreten Gesundheitsstörungen, kann die Gesundheitsversorgung das Vorliegen von Gewalteinflüssen erkennen, Befunde gerichtsverwertbar dokumentieren, langfristige Folgen reduzieren und in Kooperation mit anderen unterstützenden Einrichtungen helfen, die Möglichkeiten des Schutzes vor weiterer Gewalt abzuklären. Ein erster Leitfaden für die Befunddokumentation bei Gewalt gegen Frauen wurde in Deutschland in den Jahren 2000 – 2003 vom S.I.G.N.A.L.-Interventionsprogramm für die chirurgische Notfallambulanz eines Berliner Klinikums entwickelt. Grundlage waren insbesondere Erfahrungen einiger New Yorker Kliniken. Alle in Deutschland derzeit existierenden Dokumentationssysteme bei Partnergewalt sind direkt oder indirekt von S.I.G.N.A.L. beeinflusst.

Das interdisziplinäre Netzwerk Gewaltprävention in der Gesundheitsversorgung in Hessen wurde Ende 1999 gegründet. Das Ziel des dort entwickelten "Hessischen Dokumentationsbogens bei häuslicher Gewalt" war die Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes der von Partnergewalt betroffenen Frauen durch niedergelassene und stationär versorgende Ärztinnen und Ärzte.

Ziel des Projektes A.U.S.W.E.G. war, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwieweit und unter welchen Bedingungen der hessische Dokumentationsbogen bei häuslicher Gewalt in der Gesundheitsversorgung angenommen wurde, eingesetzt wird und seine Ziele erreicht.

Dazu wurden die Implementierungsstrategien des Handlungsleitfadens analysiert, die Einstellungen von Ärztinnen und Ärzten zu den Möglichkeiten des Gesundheitsschutzes und der gerichtsverwertbaren Dokumentation bei häuslicher Gewalt gegenüber Frauen erfragt und Hypothesen dazu entwickelt, ob und unter welchen Bedingungen Pflegekräfte in Deutschland wesentliche Aufgabenstellungen bei der Befundung und Dokumentation der Folgen häuslicher Gewalt gegenüber Frauen übernehmen könnten. Fokusgruppen, teilnehmende Beobachtungen, Experteninterviews und standardisierte schriftliche Befragungen wurden durchgeführt.

Es zeigte sich zunächst, dass trotz des Engagements aller Beteiligten eine umfassende Implementierung des hessischen Dokumentationsbogens nicht gelungen ist. Handlungsleitfaden und Dokumentationsbogen sind zur Verbesserung der gerichtsverwertbaren Dokumentation gut geeignet, entsprechen aber in ihrem Aufbau sowie in den Distributions- und Implementierungsstrategien noch nicht hinreichend der Logik der Gesundheitsversorgung. Die entwickelten Materialen enthalten wichtige Fragestellungen, aber nicht umfassend die für Leitlinien ärztlichen Handelns relevanten Fragestellungen der Anamnese, Befunddokumentation, Behandlung und Sekundärprävention. Die Implementierung erfolgte bisher überwiegend über Öffentlichkeitsarbeit und Schulung, weder systematisch, noch verbindlich. Die Dokumentation ist nicht gratifiziert. Die Handlungsleitfäden sind nur bedingt über die erwartbaren Informationssuchstrategien der Ärztinnen und Ärzte zu finden.

Als ursächlich können strukturelle Probleme angesehen werden. Es gibt keine hinreichenden Daten über die Relevanz der Gesundheitsfolgen von häuslicher Gewalt gegen Frauen für die Gesundheitsversorgung in Deutschland. Ziele, primär relevante Versorgungsbereiche und Versorgungssituationen werden nicht klar und eindeutig kommuniziert. Erkenntnisse darüber, welche Interventionen sich aus Sicht der Gesundheitsversorgung mit welchem Grad an wissenschaftlicher Evidenz bewährt haben, sind teils nicht vorhanden, teils nicht hinreichend aufgearbeitet. Die Organe, Strukturen und Prozesse der Gesundheitsversorgung sind zwar in den Entwicklungs- und Implementierungsprozess einbezogen, aber auf einer unverbindlichen Basis. Die Rahmenbedingungen sind nicht ausreichend geklärt.

Der Handlungsleitfaden wurde von Ärztinnen und Ärzten eher vereinzelt zur Kenntnis genommen. Sie sehen sich tendenziell als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner bei häuslicher Gewalt und würden ihren Angaben nach bei Verdacht Frauen auch überwiegend ansprechen. Zeitmangel wurde nicht als entscheidendes Hindernis formuliert. Die mit einem Handlungsleitfaden verbundenen Hilfestellungen wurden fast einheitlich als sehr hilfreich beschrieben, ohne dass bekannt war, dass ein solcher Leitfaden existiert. Die Bereitschaft an Fortbildungen teilzunehmen, war demgegenüber geringer ausgeprägt.

Es können Zweifel daran formuliert werden, dass Ärztinnen und Ärzte in Hessen durchgängig hinreichend sensibilisiert sind, um einen Verdacht zu entwickeln, dass es sich bei Gesundheitsstörungen oder Verletzungen einer Patientin auch um Folgen häuslicher Gewalt handeln könnte, wenn diese das Thema nicht von sich aus anspricht. Mangelnde Handlungssicherheit in der Gesundheitsversorgung könnte dazu führen, dass sich Patientin und Ärztin oder Arzt unausgesprochen darauf einigen, einen Verdacht bei Ärztinnen und Ärzten gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Pflegekräfte könnten sich grundsätzlich vorstellen, im Rahmen ihrer Tätigkeit Aufgaben zu übernehmen, die im Kontext der Versorgung von Folgen häuslicher Gewalt oder der Gewaltprävention stehen. Dies kann Fragen des Screenings, Unterstützung bei der gerichtsverwertbaren Dokumentation und ggf. Beweissicherung sowie Abklärung des Schutzbedarfs und die Kooperation mit Unterstützungssystemen außerhalb der Gesundheitsversorgung einschließen. Allerdings benötigen Pflegekräfte in Deutschland dazu einen expliziten Auftrag. Der explizite Auftrag muss den Handlungsrahmen der Pflegekräfte verbindlich festlegen; die zur Verfügung stehende Zeit und ein geschützter Ort müssen gewährleistet sein. Wahrnehmungen, Einstellungen, Zuschreibungsprozesse, Unsicherheiten und Verhaltensstrategien ungeschulter Pflegekräfte scheinen international ähnlich zu sein. Mangelndes Wissen und psychosozialer Schutz, gepaart mit gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen, können zur Auffassung führen, dass häusliche Gewalt gegen Frauen ein Thema marginalisierter Gruppen ist und überwiegend in Verbindung mit Alkoholmissbrauch vorkommt. Schulungen der Pflegekräfte können dies prinzipiell beeinflussen, aber dann nicht nachhaltig ändern, wenn es sich um einmalige Fortbildungsprogramme handelt. Handlungsunsicherheiten können zur Festigung von Zuschreibungsprozessen führen, Partnergewalt beträfe marginalisierte Gruppen.

Der Gesundheitsversorgung ist es wahrscheinlich bisher nicht hinreichend gelungen, ihre Funktion im Kontext Partnergewalt zu erkennen, zu verstehen und anzunehmen. Daraus resultieren vermutlich Formen der Mangel- und Fehlversorgung, nicht hinsichtlich akuter körperlicher Verletzungen, sondern in der Verhinderung von gesundheitlichen Spätfolgen.

Langfristig wäre das Ziel, nicht ausschließlich auf ‚Verdacht’ zu fokussieren, sondern ein generelles Screening nach internationalen Vorbildern zu diskutieren und einen klaren, in einer Leitlinie festgelegten Handlungs-Algorithmus einzuführen. Strukturelle Rahmenbedingungen müssen verändert werden; fundierte, versorgungsnahe Forschung ist notwendig. Der Weg zu einer derart veränderten Praxis in Hessen könnte über Schutzambulanzen in den sechs Versorgungsbereichen des Krankenhausbedarfsplans führen, die eine veränderte Praxis erproben und ihre Expertise konsiliarisch und beratend zur Verfügung stellen.

Publikation

Blättner B. Krüger K, Grewe A (2009): A.U.S.W.E.G. Ärztliche Dokumentation der Folgen häuslicher Gewalt, Sichtweisen der…