GeSicht - Gesundheitsversorgung für Frauen nach häuslicher und sexualisierter Gewalt im Land Hessen aus Sicht der Betroffenen
Im Projekt GeSicht werden Frauen in Hessen interviewt, die von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, und ihre Erfahrungen in der Gesundheitsversorgung beleuchtet. Der Fokus der Forschung liegt darauf, wie die Frauen gesundheitliche Behandlungen erleben und ob ihren Bedürfnissen nachgegangen wird.
Projektleitung:Prof. Dr. Daphne Hahn
Wissenschaftliche Mitarbeiterin:Stefanie Haneck (M. Sc. Public Health)
Studentische Mitarbeiterin: Marie Baumert (B. Sc. Gesundheitsförderung)
Laufzeit: 01.09.2022 – 30.02.2024
Projektbeschreibung GeSicht
Hintergrund
Gewalt ist ein relevantes Thema in der Gesellschaft, wobei der Gesundheitssektor eine entscheidende Rolle einnimmt. In Deutschland erlebt etwa jede dritte bis vierte Frau mindestens einmal im Leben körperliche und/ oder sexuelle Gewalt (FRA 2014; Müller/Schröttle 2004). Dabei umfasst die sogenannte „häusliche Gewalt“ alle Formen der Gewalt zwischen Menschen, die in einer nahen Beziehung zueinanderstehen oder gestanden haben (Kavemann et al. 2001). In einer repräsentativen Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gaben 25 % der befragten Frauen (n = 10.264) in Deutschland an, dass sie seit ihrem 16. Lebensjahr Erfahrungen mit sexueller oder körperlicher Gewalt durch den (Ex-) Partner gemacht haben (Müller/Schröttle 2004). Allerdings werden im Rahmen der Gesundheitsversorgung die Gewalterfahrungen oftmals nicht erkannt (Ansara/Hindin 2010, Black 2011). Betroffene wenden sich nicht nur in Notfallsituationen an Gesundheitsfachkräfte, sondern auch im Rahmen von Routineuntersuchungen. Allerdings bedeutet dies nicht automatisch, dass die Gewalterfahrungen auch thematisiert werden (Gloor/Meier 2014). Dabei könnte das Gesundheitswesen zu einer Früherkennung von Gewalt sowie Prävention von gesundheitlichen Folgen der Gewalt beitragen und eine Vernetzung zu dem spezialisierten Beratungs- und Unterstützungssystem darstellen.
Im Projekt FraGiL der Hochschule Fulda wurden die Versorgungsangebote im Zusammenhang mit Gewalt erfasst und Versorgungslücken identifiziert. Dabei zeigte sich, dass insbesondere in Ost- und Nordhessen im ländlichen Raum keine adäquate gesundheitliche Versorgung nach häuslicher und sexueller Gewalt gewährleistet werden kann (Haneck/Hahn 2022a). Es besteht großer Bedarf an Vernetzung und Koordinierung innerhalb der Gesundheitsversorgung, um Menschen mit Gewalterfahrung zu unterstützen (Haneck/Hahn 2022b). Zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde 2011 die Istanbul-Konvention verabschiedet, eine Übereinkunft des Europarats, die 2018 in Deutschland in Kraft trat (Council of Europe 2011). Bis heute gibt es keine nationale Strategie, mit der die Umsetzung festgeschrieben wurde (GREVIO 2022). Bisher wird die Istanbul-Konvention im Bereich der Gesundheitsversorgung noch immer unzureichend umgesetzt. Außerdem berücksichtigen die Angebote der Gesundheitsleistungen oftmals nicht die Bedürfnisse der betroffenen Frauen (Betroffenenrat 2018).
Projektziel und Fragestellung
Bislang gibt es nur wenige Untersuchungen zur Gesundheitsversorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt, die die Sicht der Betroffenen einbeziehen. An dieser Forschungslücke setzt das Projekt GeSicht an.
Die Projektziele sind:
- Erfahrungswerte von betroffenen Frauen über bestehende gesundheitliche Versorgungsangeboten und -situationen im Zusammenhang mit häuslicher und sexualisierter Gewalt in Hessen zu gewinnen.
- Stärken und Schwächen der Gesundheitsleistungen im Zusammenhang mit häuslicher und sexualisierter Gewalt aus Sicht der Betroffenen zu identifizieren.
- einen Beitrag zur Umsetzung der Istanbul-Konventionen im Bereich der gesundheitlichen Versorgung in Hessen zu leisten.
Zur Untersuchung des Forschungsinteresses sind qualitative Methoden vorgesehen. Im Rahmen des Forschungsprojektes werden problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) mit gewaltbetroffenen Frauen aus Hessen geführt. Diese werden in Anlehnung an die Thematische Analyse nach Braun und Clarke (2006) ausgewertet. Einzelne ausgewählte Interviewabschnitte werden zusätzlich feinanalytisch ausgewertet. Durch Erkenntnisse der subjektiven Erfahrungen und Bedürfnisse gewaltbetroffener Frauen kann die Betroffenensicht bei der Gestaltung von Angeboten berücksichtigt werden. Die Ergebnisse des Projektes sollen eine Grundlage für die Gestaltung und Weiterentwicklung von gesundheitlichen Angeboten sein und Entscheidungsträger*innen in der Praxis sowie auf politischer Ebene wissenschaftlich fundiertes Wissen über die Betroffenensicht zur Verfügung stellen.
Literatur
Ansara, D. L.; Hindin, M. J. (2010): Formal and informal help-seeking associated with women’s and men’s experiences of intimate partner violence in Canada. Social Science and Medicine 70(7):1011–1018.
Braun, V.; Clarke, V. (2006): Using thematic analysis in psychology. Qualitative Research in Psychology 3: 77 – 101.
Betroffenenrat (2018): Betrifft: Alle. Arbeit des Betroffenenrats. Online verfügbar unter: tour41.net/wp-content/uploads/2019/08/Magazin_Betrifft_alle_Betroffenenrat.pdf (abgerufen am: 06.12.2022).
Council of Europe (2011): Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und erläuternder Bericht. Istanbul. Online verfügbar unter: rm.coe.int/1680462535 (abgerufen am: 06.12.2022).
FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick. Online verfügbar unter: fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014-vaw-survey-at-a-glance-oct14_de.pdf (abgerufen am: 18.10.2021).
Gloor, D.; Meier, H. (2014): „Der Polizist ist mein Engel gewesen.“ Sicht gewaltbetroffener Frauen auf institutionelle Interventionen bei Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Projekt NFP-60, Schlussbericht. Online verfügbar unter: lks-hessen.de/sites/default/files/downloads/inhalte/Langfassung%20BetroffenenSicht.pdf (abgerufen am: 20.10.2021).
GREVIO (2022): Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Erster Bericht des Expertenausschusses (GREVIO) zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention) in Deutschland. Europarat: Straßburg.
Haneck, S.; Hahn, D. (2022a): Gesundheitsversorgung für Frauen nach häuslicher und sexualisierter Gewalt am Beispiel des Landes Hessen. Prävention und Gesundheitsförderung.
Haneck, S.; Hahn, D. (2022b): Effekte von Kooperationen auf die gesundheitliche Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt in Hessen und deren Auswirkungen auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Das Gesundheitswesen.
Kavemann, B.; Leopold, B.; Schirmacher, G.; Hagemann-White, C. (2001): Modelle der Kooperation gegen häusliche Gewalt. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des Berliner Interventionsprojektes gegen häusliche Gewalt (BIG). BMFSFJ (Hrsg.) Schriftenreihe des BMFSFJ Band 193. Stuttgart.
Müller, U.; Schröttle, M. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Bielefeld.
Rabe, H.; Leisering, B. (2018): Analyse: Die Istanbul-Konvention. Neue Impulse für die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.). Online verfügbar unter: www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Analyse_Istanbul_Konvention.pdf (abgerufen am: 05.12.2022).
Witzel, A. (2000): Das problemzentrierte Interview. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1): Art. 22.
Stefanie Haneck
wissenschaftliche Mitarbeiterin, Promotion