Evaluation der Implementierung des hessischen Dokumentationsbogens bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen

gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Projektleitung:Prof. Dr. Beate Blättner, Prof. Dr. Daphne Hahn

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: M.Sc. Elisabeth Hintz, M.Sc. Jannina Renner 

Laufzeit: 01.04.2009 - 30.09.2010

Kooperationspartner: Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit. Die Interviews mit den Fachkommissariaten erfolgten mit freundlicher Genehmigung durch das Hessische Innenministerium.

Publikation

Hintz E, Blättner B, Renner J, Hahn D (2011): EID. Evaluation der Implementierung des hessischen Dokumentationsbogens bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Forschungsberichte des gFFZ: Frankfurt a.M. (ISBN 978-3-943029-05-5).

Hintergrund und Fragestellung

In Hessen wurden im Jahr 2008 insgesamt 455 Fälle von Vergewaltigung oder schwerer sexueller Nötigung angezeigt, 2009 waren es 481 Fälle. Tatverdächtige sind zu 99 % männlich, mutmaßliche Opfer sind zu 96 % weiblich. Die Aufklärungsquote betrug 82%. Europaweit steht einer steigenden Zahl von Anzeigen eine sinkende Verurteilungsquote gegenüber.

Die für eine Aufklärung und Verfolgung der Straftat notwendige Verdichtung der Beweislage kann durch eine gerichtsmedizinische Spurensicherung anhand eines Dokumentationsinstruments unterstützt werden. Unter Federführung des Hessischen Sozialministeriums wurden deshalb ein Dokumentationsbogen bei sexualisierter Gewalt und ein Spurensicherungsset entwickelt, die eine fachärztliche Befundung anleiten und unterstützen. 2008 wurde durch einen Erlass des Innenministeriums der verbindliche Einsatz geregelt. Die Polizei erhielt den Auftrag, betroffene Personen zu einer ärztlichen Versorgung zu begleiten und auf die Nutzung des Dokumentationsbogens zu drängen.

Das Forschungsprojekt EID untersuchte, ob und unter welchen Bedingungen der hessische Dokumentationsbogen angewandt wird und ob er seine Ziele erreicht.

Vorgehen

Es wurden insgesamt 47 persönliche bzw. telefonische Experteninterviews geführt, davon

  • 24 mit Kommissarinnen und Kommissaren der hessischen Fachkommissariate für Sexual- bzw. Sexual- und Tötungsdelikte
  • 11 mit Mitarbeiterinnen der Frauennotrufe
  • 6 mit Gynäkologinnen und Gynäkologen aus der stationären Gesundheitsversorgung, 1 in der Rechtsmedizin.
  • 5 innerhalb der hessischen Justiz (Staatsanwaltschaft, Opferanwaltschaft, Richterin).

Ergebnisse

Entscheidet sich eine Person innerhalb von 48 Stunden nach einer Vergewaltigung oder einer sexuellen Nötigung, zur Polizei zu gehen, und wird der angezeigte Vorfall von der Polizei als sexualisierte Gewalt gewertet, so scheint gesichert zu sein, dass die Polizei das Opfer zur fachärztlichen Untersuchung begleitet. Dies gilt auch dann, wenn die Polizei auf anderem Wege innerhalb dieser Zeitspanne von dem Vorfall erfährt.

Im Regelfall erfolgt die Untersuchung in einer Klinik. Aus Sicht der Polizei und der stationären Gesundheitsversorgung können dort eher Routinen entwickelt werden, die zu einer kompetenten und schnellen Befundung führen. In der vertragsärztlichen Versorgung würde zudem der Praxisbetrieb zu sehr gestört.

Dokumentationsbogen und Untersuchungsset liegen in den Kommissariaten bereit. Ihr Einsatz wird von der Polizei und der medizinischen Versorgung als eine Verbesserung und Standardisierung des Ermittlungsvorgehens empfunden. Gesicherte Spuren werden von der Polizei asserviert und in der Rechtsmedizin untersucht.

Unterschiede lassen sich bei der Weitergabe des Originaldokuments der Befundung beschreiben. Während einige Ärztinnen und Ärzte den ausgefüllten Dokumentationsbogen vollständig an die Polizei zurückgeben, gibt es andere, die den Bogen nur teilweise aushändigen oder ein Gutachten über den Inhalt des Bogens verfassen. Dies steht im Widerspruch zur juristischen Auffassung, dass der Dokumentationsbogen bei einer polizeibeauftragten Untersuchung fester Bestandteil der Ermittlungsakten ist, die an die Staatsanwaltschaft weitergereicht werden.

Der Justiz ist der Dokumentationsbogen weitgehend bekannt, allerdings hat sie bislang nur wenig Erfahrung mit ihm gesammelt. Ursache dafür könnte die lange Zeitspanne zwischen der Anzeige des Vorfalls und dem Abschluss des Strafprozesses sein.

Die Rechtsmedizin erinnert sich an wenige Gerichtsverhandlungen, bei denen der Dokumentationsbogen zur Bekräftigung der Opferaussage vorlag. Nach rechtsmedizinischer Einschätzung führt der Bogen zu einem sicheren Verhandlungsauftritt der Ärztinnen und Ärzte, die sich durch die Aufzeichnungen detailliert an den Fall erinnern können. Dafür ist es allerdings erforderlich, eine Kopie der Dokumentation in die Patientenakten aufzunehmen.

Liegen zwischen Vorfall und Anzeige 48 bis 72 Stunden oder wird der Partner oder frühere Partner als Tatverdächtiger angezeigt, scheint das Vorgehen nicht mehr einheitlich zu sein. Einige Kommissarinnen und Kommissare sehen hier keine Notwendigkeit der Anwendung des Bogens. Liegt der Vorfall mehr als 72 Stunden zurück, wird eine fachärztliche Befundung für nicht mehr sinnvoll erachtet.

Entscheidet sich eine Person nach Vergewaltigung oder sexueller Nötigung zunächst, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, so kann es sein, dass sie von Klinikärztinnen und Klinikärzten gedrängt wird, den Vorfall anzuzeigen. Befundungen im Auftrag der Patientin steht die Gesundheitsversorgung mit Skepsis gegenüber. Ein Grund dafür ist, dass die Übernahme der Kosten dann nicht geklärt ist. Den Betroffenen wird zugleich weit weniger geglaubt, dass sie Gewalt erfahren haben. Wird eine Befundung dennoch durchgeführt, erfolgt sie nicht zwingend genauso vollständig wie bei einer polizeibeauftragten Dokumentation. Die Chancen auf einen Erfolg eines später eingeleiteten Strafverfahrens sind entsprechend geringer.

Eine Spurensicherung im Auftrag der Patientin ist seit 2010 in zwei Regionen Hessens möglich.

Die hessischen Frauennotrufe stehen der Einführung des Dokumentationsbogens grundsätzlich sehr positiv gegenüber. Kritisiert wird von ihnen teilweise, dass Frauen nach sexualisierter Gewalt zu wenig Entscheidungsspielraum bleibt, ob und wann sie Anzeige erstatten. Ein Teil der Interviewten verweist auf die Gefahr der Retraumatisierung durch das strafrechtliche Verfahren und die erneute Erfahrung der Frau, nicht selbst bestimmen zu können, was mit ihr passiert. Im kurzen Zeitraum nach dem Vorfall, innerhalb dessen Spuren gerichtsverwertbar gesichert werden können, seien Gewaltopfer überfordert, die Konsequenzen einer Anzeige für sich zu überdenken. Insgesamt würde in Strafverfahren die psychische Belastung der Gewaltopfer zu wenig berücksichtigt werden.

Schlussfolgerungen

Der hessische Dokumentationsbogen bei sexualisierter Gewalt ist implementiert und erfüllt sein Ziel in Ermittlungsverfahren. Hessen hat hier bundesweit eine Vorreiterrolle übernommen. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist die hessische Erlasslage.

Die Auswirkungen auf den Strafprozess sollten in etwa zwei Jahren auf Basis einer Aktenanalyse genauer untersucht werden.

Begleitend und unterstützend sind bei allen Akteuren weiterhin Schulungen sinnvoll, um Handlungssicherheit zu gewinnen und um die Versorgung von Gewaltopfern zu verbessern. Dies gilt u.a. für die Abgrenzung zum Vorgehen bei häuslicher (körperlicher) Gewalt und für den Umgang mit dem ausgefüllten Dokumentationsbogen.

Die Situation der Gewaltopfer kann durch eine patientenbeauftragte Dokumentation und Spurensicherung deutlich verbessert werden, weil die Entscheidung für eine Anzeige größere zeitliche Spielräume lässt. Mit der Eröffnung der Schutzambulanz Fulda ist in einer zweiten Region Hessens gesichert, dass eine von Betroffenen beauftragte Befundung durchführbar ist und die Beweise asserviert werden. Dies erleichtert eine Strafverfolgung im Fall einer Anzeige, die mehr als 48 Stunden nach der Tat erfolgt, erheblich.