Was wissen wir über Corona aus den Medien?

M.K.

Liebe Kollegin,

von Niklas Luhmann stammt die Aussage, dass wir das, was wir über die Realität wissen, aus dem Fernsehen wissen. Luhmann meinte damit zweierlei: erstens, dass die Vielzahl der weltweiten Ereignisse und Zusammenhänge, die unsere Welt bestimmen, sich unserer direkten Erfahrung entziehen, eines seiner damaligen Beispiele war etwa der sog. "saure Regen", man könnte freilich auch an den "Klimawandel" denken; zweitens, dass wir, indem wir fernsehen oder die Zeitung lesen, ein gemeinsames Wissen über die Realität erzeugen. Ein gemeinsames Verständnis von aktuellen Themen oder Problemen ist so gesehen Folge dessen, dass wir dieselben Nachrichten sehen und Informationen aus denselben Quellen zugetragen bekommen. Es ist also Folge dessen, was du "Makrokommunikation" nennst.
Gibt es denn aktuell ein gemeinsam geteiltes Wissen über Corona angesichts veränderter Mediennutzung, und wie wird dieses durch Makrokommunikation hervorgebracht oder beeinflusst?
Ich sende viele Grüße, M.K

Direktantwort

CD.

Lieber Kollege,

danke für die Post. Den Blick auf die Massenmedien zu werfen, halte ich angesichts ihrer eigentlich schwindenden Relevanz im Zustand der Gesellschaft im Lockdown für zentral, weil sie ein gewisses Revival erleben. Insofern lasse ich mich auf die Frage gerne ein. Allerdings muss ich um eine kleine Korrektur bitten: Luhmann schreibt zu Beginn der Realität der Massemedien, dass wir das, was wir von der Welt, der Gesellschaft, in de wir leben aus den Medien (sic!) wissen. Die Zuspitzung auf Fernsehen erfolgt etwas später, was ich nicht uninteressant finde. Den Medien schreibt er die Funktion zu, uns mit Wissen zu versorgen, dass für uns andernfalls nicht erreichbar wäre (man denke an dieser Stelle etwa an die zentrale Funktion von Medien in der Vermittlung gesellschaftlich beglaubigter Semantiken, zum Beispiel der Liebe). Massenmediale und damit massenhafte verbreitete Inhalte können also ähnliche Wissensvorräte erzeugen und, den Punkt finde ich gerade im Kontext von Corona zentral, geteilte Symbolvorräte (von verschiedenen Zeichensystemen und damit natürlich auch Bildern, der Lexik hin zu Argumentationslinien) generieren. Das ist gleichsam ihr kommunikationsstrukturelles Potential, das angesichts der Ausdifferenzierung der Medien in den vergangenen zehn Jahren etwas gelitten hat. Wir müssten also mit Blick auf viele Gesellschaftsmitglieder und ihre Medienbiographie ergänzen: Was wir über die Welt etc wissen, wissen wir immer weniger aus "klassischen Massenmedien", sondern zunehmend aus sogenannten "sozialen Medien“. Hier scheint sich das Wissen über Corona auszumitteln, in tausenden von Tweets und Posts etc. Und hier würde ich auf Deine erste Frage antworten, nein, ein gemeinsam geteiltes Wissen über Corona scheint es in der Breite nicht zu geben, in unterschiedlich, teilweise auch sehr großen Gruppen (ich spreche hier ja von der Mesoebene) schon. Das beginnt bei der Selektion des Podcasts des einen und nicht des anderen Virologen und geht hin zu zum Abonnement der Tweets sowohl des Robert Koch Instituts und der WHO, deren Inhalte nicht immer korrespondieren. Ausdifferenzierung verhindert hier also absolut geteiltes Wissen.
Jetzt kommt noch ein aber... Klassische Massenmedien werden jedoch derzeit paradoxerweise gestärkt und das gerade auch durch die Ausdifferenzierung. Etwa dann, wenn unterschiedliche Positionen, bekannt aus Sozialen Medien (siehe oben) gemeinsam in Talkshows Platz nehmen, wenn Zeitungen die unterschiedlichen Richtlinien offizieller Einrichtungen (RKI u. WHO) vergleichen, wenn Angela Merkel eine Fernsehansprache in der Absicht der Adressierung möglichst vieler hält. Hier zeigt sich die "alte Stärke" der Massenmedien, Wissen für alle hervorbringen zu wollen, Unterschiedliches zu diskutieren, rote Fäden zu entdecken etc. Das Wissen, wie Du es formuliert hast, das in Makrokommunikation (Ich weiß, Luhmann hat den Begriff ja geradezu verabscheut) hervorgebracht ist, ist somit das Ergebnis der Perspektivierung auf die ausdifferenzierte Welt(Corona)beobachtung der sozialen Medien. Es scheint so zu sein, dass diese damit einhergehende Desambiguierung zu vieler Vagheiten, die getwittert und gepostet werden, den "alten Leitmedien" zu neuer Bedeutung verhilft.
In ihrer Krisenkommunikation zeigt sich gerade deutlich ihr Potential.
Und damit ende ich vorerst meine Replik, mit besten kollegialen Grüßen versteht sich. CD.

Direktantwort

M.K.

Liebe Kollegin,

ich greife gerne deine Unterscheidung auf zwischen der desambiguierenden Funktion (oder: Fiktion) der sog. Leitmedien, also vornehmlich der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und Internetpräsenzen - einschließlich solcher podcasts wie dem des Virologen Drosten und seines Kollegen Kekule - sowie der Printmedien und der mehr oder minder spekulativen Vervielfältigung von Perspektiven in den sog. sozialen Medien. In gewisser Weise müsste man zu diesen auch die klassischen, kleinräumigen Öffentlichkeiten zählen, also Tischgespräche, Kneipenrunden, die Unterhaltung am Arbeitsplatz, an denen, wenn man John Dewey folgt, Nachrichten in Versionen der Wirklichkeit überführt werden. Aus der Medialität des Umgangs mit der Pandemie führt also kein Weg heraus. Mich würde dennoch das Handeln der Leitmedien interessieren, wie sie desambiguierend wirken.
Zunächst hat sich dort das Thema zu einer erfahrbaren Krise verdichtet , durch die Schlagzahl der Berichte, durch die Hinzuziehung von Experten, durch das Mittel der Zählung und Aktualisierung von Infektionen usw. Zugleich wurden früh renommierte Experten hinzugezogen, deren Stellungnahmen, so paradox das zunächst klingen mag, unsicherheits- und krisenverstärkend wirkt. Exemplarisch für diese Expertensicht steht etwa der Virologe Drosten, der eine wissenschaftliche Einschätzung liefert, das heißt eine, die ihre Begrenztheit mitkommuniziert.
Drittens übernahmen die Medien eigentlich von Beginn an die Funktion der Vermittlung politischer Ankündigungen, indem dort den Ansprachen des politischen Entscheidungspersonals besonders viel Raum gegeben wird (zunächst: Spahn, dann v.a. Laschet und Söder, die Kanzlerin). Die Übergang zwischen Aufmerksamkeitsfokussierung, der kritischen Begleitung des politischen Geschehens und der direkte Verkündung und Unterstützung politischer Entscheidungen scheint dabei durchaus fließend zu sein. Die Frage ist, wie die Mesokommunikation mit diesen Vereinheitlichungsbemühungen umgeht.

Mit kollegialem Gruß, M.K.

Direktantwort

CD.

Lieber Kollege,

zwischenzeitlich mussten andere Interaktionssysteme versorgt werden, daher erst heute meine Replik.
Gut, bleiben wir noch etwas bei den Funktionen der einzelnen Ebenen und Medienformen. Zunächst zu der Desambiguierung der sogenannten Massenmedien. Ich schrieb, in der Krise zeige sich ihr wahres Potential (etwas pathetisch). Grundsätzlich ist es ja so, dass sie ausstrahlen (zB. Merkels und Steinmeiers Ansprachen), damit potentiell unendlich verbreiten und multiplizieren und dabei Ressourcen heranziehen müssen, die in verschiedenen Mikro- und Mesokommunikaten anschlussfähig sind (wir sehen im TV und der Zeitung also das 100. Diagramm, die eindeutigste Graphik, die Infizierte und Verbreitungen für alle verständlich zu visualisieren sucht etc.).
Du identifiziert drei Funktionen: verdichten, verbreiten, verkünden. So zumindest lese ich Deinen Brief.
Dabei liefern sie Eindeutiges, das müssen sie auch, weil zu viel Differenzierung rein sprachökonomisch in einer zweizeiligen Überschrift nicht möglich ist, zudem der offensichtlichen Logik des massenhaften Verbreitung widerspricht: Jede Nachricht ist eine Selektion und ein Einschnitt, die ihren Wert mitkommunizieren muss. Es ist eben angesichts der Vielzahl von medialen Mitteilungen pro und contra und nicht sowohl als auch. Dabei ist jedoch zu beobachen, dass sie einerseits verschiedene Funktionen übernehmen - und hier sind es gerade die der Vertiefung/Verdichtung und „Verkündigung“, die ihr Potential konträr zur Mesoebene (noch) deutlich demonstrieren - und andererseits fortwährend auf der Mesoebene nach neuen Nachrichten fischen (müssen). Und hier zeigt sich ein erneutes Paradoxon: Die Massenmedien müssen quasi, um ihr Potential kommunizieren zu können, "Konvergenz leben", müssen auf die Twitteraccounts von Politiker*innen und Virolog*innen verweisen, die interessantesten privaten und beruflichen Lösungen für den Lockdown aufgreifen und als nachrichtenwert (nachrichtenwert als Adjektiv) präsentieren. Und weil sie verbreiten und multiplizieren, wird aus dem (auch zufällig) Selektierten etwas vermeintlich Eindeutiges, das bei dem nächsten Artikel möglicherweise ersetzt oder erweitert wird.
Kommunikation auf der Mesoebene hat andere Aufgaben oder besser andere Möglichkeiten. Selbstverständlich geht es hier auch um Vereinheitlichungsbemühungen in der Nutzung und Selektion von Adressat*innen und Inhalten (Stichwort: Filterblase), aber auch noch um etwas anderes. Und da würde ich Deine Rede von den „Versionen der Wirklichkeit“ doch unbedingt erweitern, vielleicht sogar verändern wollen… Keine der Ebenen versorgt uns mit Wirklichkeit, alle erzeugen ihre Version. Auf der Meso- (und auch der Mikro-) Ebene passiert aber zudem etwas, worauf sich die Massenmedien beziehen: Aneignung (dazu immer inspirierend: de Certeau). Und hier zeigt sich in allen Tweets und Tischgesprächen und Aushängen und Posts, was (zunächst) unter Gruppenbedingungen wahrnehmbar wird, semiotisch ausgehandelt wird - als was all das Gelesene und Gehörte angesehen und wideraufgegriffen wird, wie mit dem Lockdown kommunikativ umgegangen wird, was an massenmedialer Vereinheitlichung aufgegriffen und hinterfragt wird. Und das tut Drosten, wenn er Zeitungsberichte als zu zugespitzt auf seinem Twitteraccount kritisiert, was wiederum aufgegriffen wird und weitergeleitet wird und irgendwann massenmedial verbreitet wird. Die Mesoebene mittelt aus, verbreitet weiter, spitzt zu, stimmt zu, generiert. Hier zeigt sich eben ihr Potential:
In der Summe ist diese Ebene wendiger, flexibler, opportunistischer, schneller, kreativer, vielfältiger, diskursiver, differenzierter (in der Breite) und oberflächlicher, sie (die Mesokommunikationen) korrigieren, beliefern, verhandeln Massemediales - für sich allein genommen, und das ist das, was viele oft als Kritisch ansehen, demonstriert ein Account, ein Tischgespräch jedoch nur eine Form der Aneignung einer Auswahl von Wirklichkeit. Und damit grüße ich Dich postösterlich
CD.

Direktantwort

M.K.

Liebe Kollegin,

ich bin fasziniert von deiner Beschreibung der fluiden Dynamik der Mesoebene. Ich verstehe dich so, dass die Vielfalt der sozial-medialen Kommunikationen, ob auf facebook, über twitter, in der Pressekonferenz und im Familiengespräch oder am Gartenzaun (der Stammtisch fällt momentan noch aus, über diese Form der zumindest teilweisen Isolierung von Kleingruppen und der Einschnürung der Möglichkeiten des korrektiven und bestätigenden Klatsches im leiblich bewohnten Sozialraum wäre eigens zu diskutieren) gewissermaßen den pool der Wirklichkeiten bildet, der von den Massenmedien (Fernsehen, Zeitungen, Magazine) bewirtschaftet wird. Diesen Vorgang würde ich dann mit Alfred Schütz als den zweiseitigen Prozess beschreiben, einerseits stellvertretend so etwas wie ein sozial abgeleitetes Wissen von der Pandemie und den staatlichen Gegenmaßnahmen zu präsentieren und andererseits dieses als (geprüfte) Fakten unter Hinzuziehen von Expert_innen, Entscheidungsträger_innen zu verkünden, es also als sozial akzeptiert darzustellen.
Wenn die Beschreibung der zirkulierenden Vielfalt von Wirklichkeiten in der Mesokommunikation einigermaßen stimmig ist und auch die Schlussfolgerung, dass die Massenmedien (bzw. Makrokommunikation) im Zugriff auf diese Wirklichkeiten sich selbst mit jener Ordnungsfunktion versorgen (und vielleicht gar nicht anders können), dann sehr stellt sich mir die Frage, welche Formen diese wie du sagst: Vereindeutigung zeitigt und welche Effekte mit welchen Formen dieser "Funktionserfüllung" einhergehen. Mir würden hier zwei Aspekte ins Auge stechen:

  • Formen: Sich selbst als Leitmedien verstehende Sendungen und Zeitungen markieren ihr Tun als Aufklärung und sortieren das, was als Neuigkeitswert erscheint moralisch, verdecken aber das Moralische von gut schlecht unter der Unterscheidung von echt und unecht (ich wollte schreiben: von richtig oder falsch, auch über die Zwischenstellung von richtig und falsch zwischen Moral und Wahrheit ließe sich diskutieren); einfach gesagt: Leitmedien gerieren sich als moralische Instanzen in der Krise.
  • Effekte: Das lebensweltlich verankerte Problem des Wissens besteht jedoch nur aus einer Draufsicht aus Fragen der Richtigkeit von Informationen oder ihrer moralischen Bewertung. Denkt man Wissen von Schütz oder Dewey her, dann steht nicht die Versionshaftigkeit im Zentrum, sondern die Relevanz der Informationen für die individuelle und gemeinschaftliche Lebensführung. Die Leute haben aus der Deweyschen Sicht ein lebendiges Interesse an Informationen nicht als Fakten (oder Wahrheit), sondern als Hinweise, wie sie ihr Leben jetzt und in der näheren Zukunft gestalten können, etwa: Kann ich meine Kinder in die Schule schicken oder gefährde ich sie? Wie gefährlich ist es, einkaufen zu gehen? Wie kann mein Café die Krise überstehen und damit mein Lebensentwurf? Usw.
  • Infrage stehen würde dann, was passiert, wenn lebensweltliche Relevanz auf leitmediale Belehrung trifft, das heißt, wenn Fragen der Relevanz durch Faktenchecks konterkariert werden. Jetzt, kurz vor Pfingsten scheint zumindest ein Teil dieses Konflikts aus der digitalen Welt auf die "Straße" übergegriffen zu haben.

Ich grüße herzlich

M.K.

Direktantwort