Der Ernährungsstil als Statussymbol

21.11.2017
Foto: © Luke Wilcox | Dreamstime.com

Für immer mehr Menschen wird Ernährung zum Lifestyletrend - mit zum Teil gesundheitsgefährdenen Folgen. Ernährungsexperten müssen neue Wege beschreiten, um Gehör zu finden.

Die Behauptung des Philosophen Ludwig Feuerbach „Der Mensch ist, was er isst“ gilt heute mehr denn je: Wir identifizieren uns zunehmend über unsere Ernährung.

Besonders deutlich wird das in den sozialen Medien. Auf Youtube, Instagram und Co. verkünden seit einigen Jahren Lifestyle- und Food-Blogger – meist junge, attraktive Frauen – strikte Ernährungsregime, die Gesundheit und Wohlbefinden versprechen. Tausende von Fans und Followern leisten diesen Empfehlungen folge, kaufen Bücher, Online-Programme und sogar T-Shirts ihrer „Gurus“ – wollen „dazu gehören“. Der Haken an der Sache: Den selbsternannten Ernährungsexperten fehlt meist jegliche Qualifikation, die über die eigene Erfahrung hinausgeht.

Wohin das führen kann, zeigt das Beispiel der Amerikanerin Jordan Younger, das die britische Tageszeitung „The Guardian“ berichtete. Sie verzichtete auf Gluten, Zucker, Öl, Getreide, Hülsenfrüchte. Auf ihrem Speiseplan stand ausschließlich vegane Rohkost. Auf Instagram hatte die Bloggerin 70,000 Follower, die ihren Ernährungsstil unter dem Hashtag #eatclean (dt.: iss rein) bewarben. Irgendwann begannen Younger die Haare büschelweise auszufallen. Ihre Haut nahm von den ganzen Karotten und Süßkartoffeln, die sie aß, eine orangene Farbe. Sie erkannte, dass ihre Obsession, sich möglichst gesund, möglichst richtig zu ernähren, genau das Gegenteil bewirkte. Mit psychologischer Hilfe gelang es ihr langsam, von ihrem Ernährungsregime loszukommen und das Spektrum ihrer Nahrungsmittel zu erweitern.

Der Zwang, sich richtig zu ernähren

Das Phänomen, sich zwanghaft auf gesunde Ernährung zu fixieren, hat einen wissenschaftlichen Namen: Orthorexia nervosa. Der Begriff wurde 1997 vom US-Mediziner Steven Bratman erstmals verwendet. Noch ist Orthorexie nicht offiziell als Krankheit anerkannt, sie zeigt jedoch starke Ähnlichkeit mit einer Zwangs- und Essstörung.

Fälle wie Younger fordern die Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler derzeit heraus, vor allem jene, die sich mit Public Health, der Gesundheit der Bevölkerung, befassen. „Als künftige Public-Health-Nutrition-Experten werden wir mit diesem Thema konfrontiert – egal in welchem Berufsfeld wir später Fuß fassen“, sind sich Rabea Boos und Laura Hahner einig. „Deshalb ist es wichtig, dass wir uns jetzt schon damit beschäftigen“, sagen die Studentinnen des Masterstudiengangs Public Health Nutrition an der Hochschule Fulda. Im Rahmen des studentischen Forschungsprojekts ProPHN beschäftigen sie sich mit der Frage, wie sehr uns Ernährung beeinflusst. Denn die Auswahl an Foodtrends ist groß. Paleo, vegan, vegetarisch, gluten- und laktosefrei – für jeden ist etwas dabei. Gleichzeitig ist es so einfach wie noch nie, über die eigene Ernährung zu definieren, wer man ist und sich dabei von anderen abzugrenzen, sich zu individualisieren – selbst mit einem begrenzten Budget.

Ersatzreligion und Alleinstellungsmerkmal

Was bewegt Menschen dazu, Lebensmittel nicht nur als gesund bzw. ungesund, sondern als rein bzw. unrein, ja sogar moralisch gut bzw. schlecht zu klassifizieren? Fest steht: Der „Ernährungsstil wird immer mehr zum Lifestyletrend und Alleinstellungsmerkmal, mit dem man sich identifizieren kann“, sagt Boos. Es scheint, indem gesunde Ernährung zur Unterscheidung von Gut und Böse herangezogen wird, mutiert sie zur Ersatzreligion, die Kontrolle, Halt und Struktur verspricht. Nicht selten finden wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt kein Gehör mehr.

Neue Herangehensweise nötig

„Offensichtlich ist es den Ernährungswissenschaften bislang nicht gelungen, ihre Erkenntnisse zu vermitteln und die Menschen zu erreichen“, konstatiert Prof. Dr. Kathrin Kohlenberg-Müller, Professorin für Ernährungsphysiologie, Humanernährung sowie Ernährung in Prävention und bei Erkrankungen an der Hochschule Fulda. „Im Internet wenden sich diese Menschen dann Gruppen zu, die ihnen das bieten, was sie bei dem wissenschaftlichen Ansatz vermissen – mit teilweise dramatischen Konsequenzen.“ Es sei klar, dass Ernährungsexperten andere Wege beschreiten müssten, wenn sie sich Gehör in der Bevölkerung verschaffen wollten und die Kosten für die Behandlung von Essstörungen aller Art nicht weiter steigen sollten.

Sich auf eine Ernährungsweise zu beschränken, die nicht wissenschaftlich fundiert ist, birgt die Gefahr von Fehlernährung und Unverträglichkeiten, insbesondere dann, wenn Menschen anfangen auf Inhaltsstoffe wie Gluten oder Laktose zu verzichten, obwohl das medizinisch gar nicht nötig wäre. Im Extremfall können sich sogar Essstörungen entwickeln, die das Leben der Betroffenen vollkommen beherrschen wie das Beispiel Youngers zeigt. Orthorexie mag zwar noch nicht offiziell als Erkrankung anerkannt sein, Anorexie, Bulimie und Binge Eating dagegen sind es. Neben dem Leidensdruck für den Einzelnen haben solche Erkrankungen erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen. 2015 beliefen sich die Krankheitskosten in Deutschland laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes für nach ICD-10 diagnostizierte Essstörungen auf 368 Mio. Euro.

Vorschriften erzeugen Widerstand

„Wie kein anderer Lebensbereich ist Essen etwas ungemein Privates, in das wir uns ungern hineinreden lassen“, weiß die angehende Masterabsolventin Hahner und erklärt: „Empfehlungen von Ernährungsexperten werden von vielen Menschen als Verbote und Vorschriften wahrgenommen, auf die sie mit Abwehr reagieren.“ Es verwundert deshalb nicht, wenn aktuelle Befunde der Ernährungspsychologie zeigen, dass es keinen Erfolg hat, Gesundheitsempfehlungen rein naturwissenschaftlich zu kommunizieren. Will man Menschen erreichen, muss man ihre Lebensumstände und Emotionen ansprechen. Lifestyle-Blogger haben genau das perfektioniert und erzielen damit blindes Vertrauen bei tausenden von Menschen.

Genau hier setzen die Masterstudentinnen von ProPHN an. Den Trend zur Individualisierung des Essens griffen sie im November 2017 sogar als Tagungsthema auf und beleuchteten in verschiedenen Vorträgen zur aktuellen Forschungslage, wie sehr nicht nur wir unsere Ernährung beeinflussen, sondern wie stark diese unser Verhalten bestimmt. Ganz bewusst legten sie dabei einen Schwerpunkt auf Faktoren, die auf unsere Ernährung einwirken. Denn erst, wenn man die Ursachen von falschem Ernährungsverhalten kennt, kann man daran arbeiten, sie zu beheben.

Orthorexie
Orthorexia nervosa bezeichnet eine pathologische Fixierung auf „richtige“ bzw. „gesunde“ Nahrungsmittel (gr.: orthos = richtig; orexia = Appetit; nervosa = Fixierung). Sie ist weder im internationalen Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen ICD-10 noch im Klassifikationssystem der Vereinigten Staaten (DSM-5) als Krankheit anerkannt, wird jedoch als Krankheitsbild diskutiert. Merkmale sind u.a. fortwährende Beschäftigung mit dem Thema Ernährung, ein Gefühl der moralischen Überlegenheit, Angst durch bestimmte Lebensmittel zu erkranken, ideologische Einengung und Genussunfähigkeit.
Weitere Information zum Phänomen Orthorexie und Clean Eating finden Sie im Artikel „Why we fell for clean eating“.

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