Nach den Reformen ist vor der Reform - Gesundheitspolitik vor der Bundestagswahl

12.06.2017
Prof. Dr. Tanja Klenk und Prof. Dr. Stefan Greß - Sprecherin und Sprecher der AG Gesundheit und sozialstaatliche Infrastruktur des FoSS  (Foto: FoSS)
Begrüßungsworte vom Gastgeber Prof. Dr. Stefan Greß von der Hochschule Fulda, Fachbereich Pflege und Gesundheit (Foto: FoSS)
Begrüßung durch Prof. Dr. Steven Lambeck, Vizepräsident für Forschung und Entwicklung der Hochschule Fulda (Foto: FoSS)
Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschafen (Foto: FoSS)
über 80 Teilnehmer/innen aus Praxis und Wissenschaft fanden sich im Hochschulzentrum Fulda Transfer ein (Foto: FoSS)
Die drei Referent/innen im Dialog: v.l.n.r. Prof. Dr Tanja Klenk, Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger, Prof. Dr. Stefan Greß (Foto: FoSS)
Gastgeberin Prof. Dr. Tanja Klenk von der Universität Kassel, Institut für Sozialwesen (Foto: FoSS)

Die Frage nach dem Reformbedarf in der Gesundheitspolitik lockte mehr als 80 Interessierte aus Praxis und Wissenschaft nach Fulda.

Die Tagung der AG Gesundheit und sozialstaatliche Infrastruktur gliederte sich in drei Vorträge:

Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld wagte "Ein[en] Blick zurück - Die Gesundheitspolitik der Großen Koalition 2013 bis 2017":

Die Große Koalition hat in der 18. Legislaturperiode eine außergewöhnlich intensive Gesetzgebungstätigkeit an den Tag gelegt, die sich auf beinahe alle Bereiche der Gesundheitspolitik bezog. Allerdings wurden die Behebung zentraler Strukturprobleme und bedeutender Gerechtigkeitsdefizite des Gesundheitswesens bereits mit dem im Herbst 2013 geschlossenene Koalitionsvertrag ausgeklammert: Die Beseitigung des Nebeneinanders von gesetzlicher und privater Krankenversicherung und die Wiederherstellung der Beitragsparität zwischen Versicherten und Arbeitgebern bei der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Gesundheitspolitik der Großen Koalition steht im Wesentlichen in Kontinuität zur Politik der Vorgängerregierungen. Sie konzentrierte sich darauf, beobachtete Mängel und Fehlsteuerungen vorangegangener Reformen durch Nachjustierungen zu beheben (z. B. Versorgungsstärkungsgesetz) oder Anpassungen an neue Herausforderungen vorzunehmen. Neue ordnungspolitische Weichenstellungen oder Dynamiken blieben aus. Die Änderungen an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung fallen kaum ins Gewicht. Zu wichtigen Handlungsfeldern zählten neben der Pflege die Prävention, der Zugang zur ambulanten Versorgung und die Krankenhausversorgung. Dabei war die Versorgungsqualität ein übergreifendenes Thema. Allerdings hielt die Große Koalition an den vielfach gerade unter Qualitätsgesichtpunkten kritisierten diagnosebezogenen Fallpauschalen in der Vergütung von Krankenhausleistungen uneingeschränkt fest.

Auf zahlreichen Feldern ist noch nicht klar erkennbar, welche Auswirkungen wichtige Gesetzesvorhaben (z. B. das Präventionsgesetz, das Versorgungsstärkungsgesetz oder die Krankenhausstrukturreform) haben werden. Allerdings ist nicht sichtbar, dass mit den ergriffenen Maßnahmen wichtige Strukturprobleme in der Versorgung gelöst werden können. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen der diagnosebezogenen Fallpauschalen auf die Krankenversorgung, die Bekämpfung regionaler Versorgungsengpässe bzw. Unterversorgung und die Personalnot in Kranken- und Altenpflege.

Die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs stellt einen wichtigen, allerdings auch schon seit vielen Jahren überfälligen Fortschritt dar. Vorgenommene Leistungsverbesserungen haben den seit 1996 eingetretenen Kaufkraftverlust der Pflegeleistungen nicht verringert. Zudem besteht das Grundproblem einer nicht kostendeckenden Leistungsfinanzierung durch die Pflegeversicherung fort.

Die Präsentation zum Vortrag von Prof. Dr. Dr. Gerlinger steht Ihnen hier als pdf zur Verfügung.

 

Prof. Dr. Stefan Greß von der Hochschule Fulda gab einen Einblick in "Zusatzbeiträge, Parität, Bürgerversicherung - Reformbaustellen in GKV und PKV":

Die noch amtierende Große Koalition hat es versäumt, die Finanzierung in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung nachhaltig und zukunftsfest zu gestalten. Beitragssatzsteigerungen in der GKV werden derzeit nur durch die ungewöhnlich gute Konjunktur und eine außerordentliche Liquiditätsspritze aus dem Gesundheitsfonds begrenzt. Zu der strukturellen Einnahmeschwäche der GKV ist in den letzten Jahren auch noch ein hohes Ausgabenwachstum hinzugekommen. Setzt sich diese Entwicklung fort, so werden vor allem die Versicherten über die steigenden Zusatzbeitragssätze belastet. In der privaten Krankenversicherung werden zudem die Schwächen des Geschäftsmodells offensichtlich. Die Abhängigkeit vom Kapitalmarkt wird insbesondere in Zeiten von Niedrig- und Negativzinsen zur Zeitbombe für die PKV. Auch hier müssen die Versicherten die Konsequenzen in Form von steigenden Prämien tragen.

Der Handlungsbedarf für die nächste Bundesregierung ist offensichtlich. Als Reformoption ist vor allem eine Bürgerversicherung zu fordern, die langfristig das international einmalige und dysfunktionale Nebeneinander von GKV und PKV beendet. Außerdem könnte eine Bürgerversicherung die Bemessungsgrundlage der Beitragsfinanzierung verbreitern und die Finanzierung der Ausgaben in der GKV gerechter verteilen. Allerdings sind derzeit keine politischen Mehrheiten für die Implementation einer Bürgerversicherung gegen den massiven Widerstand der organisierten Ärtzeschaft und der privaten Krankenversicherung zu erkennen. Kurz- bis mittelfristig könnte daher eine Ausweitung des steuerfinanzierten Bundeszuschusses und die paritätische Finanzierung der Zusatzbeiträge die Versicherten entlasten. In der privaten Krankenversicherung könnte eine - in der Umsetzung allerdings sehr anspruchsvolle - Portabilität der Alterungsrückstellungen für mehr Wettbewerb sorgen.

Die Präsentation zum Vortrag von Herrn Prof. Dr. Greß steht Ihnen hier als pdf zur Verfügung.

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Prof. Dr. Tanja Klenk von der Universität Kassel mit dem Thema "Gleicher Zugang zu Leistungen, Integration der Sektoren, interprofessionelle Zusammenarbeit - Reformbaustellen bei den Versorgungsstrukturen":

 

Im internationalen Vergleich mit anderen Ländern der OECD wird Deutschland gegenwärtig nur eine durchschnittliche Qualität der medizinischen Versorgung attestiert - obgleich ein sehr hoher finanzieller Ressourcenaufwand betrieben wird. Ein wesentlicher Grund für das schlechte Abschneiden des deutschen Gesundheitssystems wird in der Organisation des Gesundheitswesens gesehen: die sektoral fragmentierte Struktur der medizinischen Versorgung zum einen, die strikten Grenzen zwischen den verschiedenen Professionen im Gesundheitswesen zum anderen erzeugen Probleme in unterschiedlichen Dimensionen: sie sind die Ursache von Über-, Unter- und Fehlversorgung und von ungleichem Zugang zu Leistungen (Zugang zu Fachärzten, Versorgung im ländlichen Raum) und von unnötigen Kosten aufgrund von Fehlnutzung.

Seit mehreren Jahren wird versucht, mit hausarztzentrierten, integrierten oder besonderen Versorgungsmodellen den Versorgungsbrüchen und den dadurch entstehenden Qualitätsproblemeb entgegenzuwirken. Bislang sind aber die Reformmaßnahmen nie über kleinteilige Innovationsversuche hinausgekommen und haben die Regelversorgung weder in qualitativer noch in ökonomischer Hinsicht nachhaltig verändert. Die Ursachen für die fehlende Wirkung der bisherigen Reformen sind bekannt: Auf Seiten der Kassen verhindern der Kassenwettbewerb bzw. die Wechselmöglichkeit der Mitglieder ein durchgreifendes Engagement für innovative Versorgungsformen, hemmend wirken auch die hohen Anfangsinvestitionen, der Verhandlungsaufwand und die damit verbundene Befürchtung, dass Zusatzbeiträge erhoben werden müssen. Auf Seiten der Leistungserbringer gibt es keinen echten wirtschaftlichen Druck, sich an besonderen Versorgungsformenbeteiligen zu müssen und insbesondere die Ärzte sorgen sich um den Stand ihrer Profession: schränken besondere Versorgungsmodelle die Therapiefreiheit ein? Droht der Verlust der Selbstständigkeit? Und wie wird sich die Aufwertung von nicht-ärztlichen Gesundheitsprofessionen auswirken? Schlussendlich ist auch auf Seiten der Patienten vielfach eine Skepsis gegenüber neuen Versorgungsformen zu konstatieren.

Ist es in der vergangenen Legislaturperiode unter Gesundheitsminister Gröhe gelungen, für diese Herausforderungen eine nachhaltige Lösung zu finden? Eines der zentralen Instrumente zur Reform der Versorgungsstrukturen, das während der Amtszeit von Gesundheitsminister Gröhe implementiert wurde, ist der Innovationsfonds. Mit 300 Millionen Euro, die von 2016 bis 2029 jährlich in einem kompetitiven Vergabeverfahren zur Verfügung gestellt werden, soll die Versorgung in der GKV qualitativ weiterentwickelt werden. Im Detail geht es um eine Vielzahl von Reformbaustellen: die sektorübergreifende Versorgung soll ebenso verbessert werden wie die Stärkung der nicht-medizinischen Gesundheitsberufe durch Delegation und Substitution und die Versorgung in strukturschwachen Gebieten.

Mit dem Innovationsfonds hat Gesundheitsminister Gröhe erreicht, den Wettbewerb um innovative Versorgungsformen, der nach dem Auslaufen der Anschubfinanzierung für die integrierte Versorgung zum Erliegen kam, wieder in Gang zu setzen und Anreize zur Weiterentwicklung der Versorgungsmodelle und deren Erforschung zu setzen. Positiv ist auch, dass das Programm weit in die nächste Legislaturperiode reicht und nicht mit möglicherweise veränderten Regierungskonstellationen nach der Bundestagswahl im September wieder zum Erliegen kommt.

Aber ist dies keineswegs ausreichend, um die Versorgungsstrukturen nachhaltig zu verändern. Es handelt sich immer noch um ein zeitlich befristetes Pilotprogramm – die nächste Bundesregierung entscheidet über die Fortführung, der Ausgang ist ungewiss. Um den Übergang zu einem lernenden Gesundheitssystem zu schaffen, bedürfte es zudem in einem stärkeren Maße an verbindlichen Mechanismen, um das in den Modellprojekten generierte Wissen und die gesammelten Erfahrungen zusammenzuführen und in die Fläche zu bringen. Zwar wurde mit dem Innovationsausschuss des g-BA eine zentrale Stelle für die Durchführung des Innovationsfonds geschaffen. Der Innovationausschuss ist aber sowohl für die Vergabe als auch die Evaluation der Projekte maßgeblich verantwortlich. Von seinem Verständnis von Innovation, Qualität und Erfolg hängt entscheidend ab, ob es zu einer Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen kommt oder ob das deutsche Gesundheitssystem im Strukturkonservatismus verharrt. Schlussendlich ist die Mehrzahl der Leistungserbringer weiterhin nicht darauf angewiesen, sich an innovativen Versorgungsmodellen zu beteiligen – ihre Finanzierung hängt nicht wesentlich vom Innovationsfonds ab.

So gilt auch weiterhin: nach der Reform ist vor der Reform. Zukünftige Reformen sollten weniger darauf abstellen, neue Versorgungsformen zu entwickeln als vielmehr diese nachhaltig zu implementieren. Organisationslernen und das Bemühen um Innovation sind ‚auf Dauer stellen‘, zum Beispiel durch Innovationsbudgets bei den Kassen. Zudem ist zu gewährleisten, dass das in den Modellprojekten gewonnene neue Wissen verwendet und verbreitet wird. Es sind klare und verpflichtende Mechanismen zu entwickeln, mit denen Ergebnisse der Modellprojekte in die Regelversorgung überführt werden.

Leuchtturmprojekte gibt es genug – jetzt steht die flächendeckende Implementation auf der Agenda, die sicherstellt, dass es nicht nur kleinteilige Innovationsinseln gibt, sondern sich auch die Regelversorgung nachhaltig verbessert wird.

Die Präsentation zum Vortrag vonProf. Dr. Tanja Klenk steht Ihnen hier als pdf zur Verfügung.

 

 

 

 

 

 

AG-Sprecherin Kassel

Prof. Dr.

Tanja Klenk

Professorin für Theorie und Empirie des Gesundheitswesens im Fachbereich 01 Humanwissenschaften der Universität Kassel

AG-Sprecher Fulda

Prof. Dr.

Stefan Greß

Dekan

Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie

Gebäude 53 , Raum 053
Prof. Dr.Stefan Greß+49 661 9640-6380
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Lesen Sie auch die Pressemitteilung zur Tagung!

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