Wachkoma und die Kontroverse um Bewusstsein
09.02.2016Wie viel Bewusstsein hat ein Mensch im Wachkoma? Darüber denkt man in der Gesellschaft unterschiedlich. Dies hat die Medizinerin Prof. Dr. Henny Annette Grewe an der Hochschule Fulda gemeinsam mit Dortmunder Soziologen untersucht. Ein Phänomen, bei dem eines nur gewiss ist: eine große Unsicherheit.
Ein Mensch blickt ins Leere, seine Augen sind nicht in der Lage, das Gegenüber zu fixieren, die Körperhaltung ist starr, Hände und Beine sind spastisch verkrümmt. „Wir wissen nicht, was in einem Menschen im Wachkoma vorgeht, ob etwas in ihm vorgeht“, sagt die Medizinerin Prof. Dr. Grewe, die an der Hochschule Fulda Medizinische Grundlagen der Pflege lehrt.
Das Phänomen Wachkoma hat Prof. Grewe mit ihrem Kollegen, dem Dortmunder Soziologen Prof. Ronald Hitzler, in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt vor allem mit einem soziologischen Blick untersucht: Welche Einstellungen gibt es in der Gesellschaft dazu?
In der Medizin handelt es sich um ein Randgebiet, zirka 8.000 bis 10.000 Wachkoma-Patienten gibt es schätzungsweise in Deutschland, Menschen mit schwersten Hirnschädigungen – genau beziffern kann man sie nicht. In Deutschland sind Wachkoma-Patienten Personen mit Rechten und Pflichten. Kinder im Wachkoma etwa seien schulpflichtig, sie können am Unterricht in Inklusionsklassen teilnehmen, erläutert die Medizinerin. Die Krankenkassen sind verpflichtet, Rehabilitationsmaßnahmen zu bezahlen.
Wachkoma: nur durch Intensiv-Medizin ermöglicht
„Der Zustand Wachkoma als bisweilen über viele Jahre anhaltende Lebensform ist durch die Möglichkeiten der Intensiv-Medizin erst erzeugt worden“, so Grewe. Oftmals ist er ein nicht gewolltes Ergebnis medizinischer Bemühungen. Wenn z.B. ein Patient wiederbelebt wurde, stabilisieren Maschinen und Medikamente diesen Patienten solange, bis er wieder selbstständig atmen kann. War sein Gehirn zu lange mit Sauerstoff unterversorgt, kann es sein, dass er nach dem Abstellen der Beatmungsmaschine zwar atmet, aber nicht wieder zu sich kommt und in einem Zustand von Schlaf und Wachheit ohne sichtbares Zeichen des Erkennens seiner selbst und anderer verharrt. Dieser Zustand gibt Rätsel auf: „Wir wissen nicht, ob sie Schmerzen wahrnehmen, Freude empfinden oder leidensfähig sind“, betont die Fuldaer Medizinerin. Reagieren sie auf Ansprache durch vertraute Stimmen? Oder interpretieren dies vertraute Personen in den Mensch im Wachkoma nur hinein?
Nicht-Bewusstsein lässt sich nicht messen
Der Zustand gibt Rätsel auf
„Wir wissen auch nicht genau, wann ein Mensch kein Bewusstsein hat. Es gibt keine Apparate, die das messen können“, stellt Grewe fest. Auch die Methoden der Hirnforschung, etwa mit bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomografie, bei der Menschen in die „Röhre“ geschoben werden, um Bilder von ihrer Gehirntätigkeit zu erzeugen, können letztlich nicht beweisen, dass ein Mensch kein Bewusstsein habe.
Gesellschaftlich brisant wird das Thema vor allem, weil die Hirnforschung spektakuläre Studien vorgelegt hat, mit denen sie „mehr“ oder „weniger“ Bewusstsein bei Patienten mit Hirnschädigungen nachweisen will. „Die Berechnungen beruhen auf Hypothesen und Modellen über Durchblutungsprozesse im Gehirn und sind für sich genommen weder ein Beweis für Bewusstsein noch für das Fehlen von Bewusstsein“, sagt Grewe.
Einfluss auf die gesellschaftliche Debatte
Grewe und Hitzler fragen sich vor allem, welche Konsequenz dies auf den gesellschaftlichen Diskurs zum Wachkoma hat, auch vor dem Hintergrund einer Kostendämpfungsdebatte im Gesundheitswesen. „Wenn man den einen Bewusstsein zuspricht, was wird dann aus den anderen? Wird dann mit den einen weitergearbeitet und mit den anderen nicht?“ Je differenzierter Hirnforscher meinen, mit Untersuchungsmethoden bei den einen Bewusstsein detektieren zu können, desto mehr könnten die anderen an den Rand gedrängt werden, bei denen sie nichts entdecken.
Untersucht haben die Wissenschaftler, wie Mediziner, Angehörige, Pflegekräfte, Physio-, Ergo- und Sprachtherapeuten über das Phänomen Wachkoma denken. Dazu sind sie in Spezialeinrichtungen, Pflegeheime oder in häusliche Umgebungen gegangen, um mit diesen Gruppen zu sprechen. Immerhin gut zwei Drittel der Wachkoma-Patienten werden von ihren Familien betreut.
Zwischen Fürsorge und „Ablagerung“
Es zeigte sich, dass vor allem Personen, die einen intensiven Umgang mit ihnen haben, wie Angehörige, Pflegekräfte, Sprachtherapeuten, Ergotherapeuten, Musik- oder Physiotherapeuten, eher Situationen erleben, in denen sie meinen, eine bewusste Reaktion des Menschen im Wachkoma wahrgenommen zu haben, etwa einen kurzen direkten Blickkontakt. Derartige Erlebnisse stützen Pflege- und Therapiekonzepte, die Aktivierung, Körperkontakt, Ansprache und Kommunikation mit dem Wachkoma-Patienten für wichtig erachten.
Sichtbare Reaktionen eines Menschen im Wachkoma können auch ganz anders bewertet werden. Wenn der Patient etwa zusammenzuckt, weil die Tür knallt, sei das kein Beweis für eine bewusste Reaktion, sondern könne der bloße Schreckreflex des Körpers sein, ein automatisches Reagieren, bei dem kein Bewusstsein vorausgesetzt sein müsse. So erklären sich vor allem für Mediziner viele vermeintliche „Reaktionen“ als Reflexe, die nichts mit einer willkürlichen Reaktion auf die Umwelt zu tun hätten.
Auch Angehörige haben unterschiedlichste Einstellungen
In einigen Heimen beobachteten die Wissenschaftler eine zugewandte Fürsorge, in anderen eine eher mechanische Pflege. Vor allem in nicht-spezialisierten Einrichtungen wie etwa in einem Altenpflegeheim seien die Wachkoma-Patienten eher „abgelagert“ worden – nicht aus mangelnder Sensibilität, sondern weil Ressourcen für die intensive Pflege fehlten. Die Forscher haben allerdings nicht die pflegerische Qualität von Wachkoma-Patienten beurteilt, sondern versucht, die Einstellungen der Akteure vorurteilsfrei zu beobachten, betont Grewe.
Auch bei den Angehörigen entdeckten die sie unterschiedliche Einstellungen: Die einen ließen ihr Familienmitglied im Wachkoma möglichst intensiv am Familienleben teilhaben. Andere äußerten mitunter den verzweifelten Wunsch, dass das Familienmitglied im Wachkoma sterben möge – beziehungsweise endlich sterben „dürfe“.
Zwischen Recht auf Leben und Sterbehilfe
Genau diese Positionen umreißen auch das Spannungsfeld der gesellschaftlichen Ethik-Debatte, berichtet die Wissenschaftlerin. Die eine Seite vertritt die Auffassung, Menschen im Wachkoma hätten ein Recht auf Leben und auf eine intensive und zugewandte Betreuung. Dagegen stehen Überlegungen, dass es unethisch sei, Leben zu erhalten, das nicht mehr menschlich sei, weil Menschsein „sich seiner bewusst sein“ bedeute. Zugespitzt geht es laut Grewe im gesellschaftlichen Diskurs um das Ideal von Fürsorge für diese Menschen mit schwersten Hirnschädigungen gegenüber der Idee, Menschen im Zustand Wachkoma durch Sterbehilfe zu „erlösen“.
Die Forschungsgruppe um Grewe untersuchte ferner, wie die Medien das Thema behandeln und analysierte etwa einen Berichte über den niederländischen Prinzen Friso, der laut Medien nach einem Skiunfall ins Wachkoma geriet und nach einer Zeit der Pflege in England und in den Niederlanden verstarb. „In den Niederlanden ist Sterbehilfe bei Menschen mit schwersten Hirnschädigungen, die nach medizinischer Ansicht keine Aussicht auf Erholung haben, unter bestimmten Bedingungen erlaubt“, erläutert Grewe. Der Tod Prinz Frisos habe daher allerlei Spekulationen ausgelöst. Die Brisanz: Es geht bei Wachkoma-Patienten selbst unter dem Aspekt passiver Sterbehilfe nicht darum, eine Beatmungsmaschine abzustellen, denn sie können selbstständig atmen. „Will man, dass sie sterben, müsste man ihre künstliche Ernährung einstellen, sie verhungern lassen - oder eine Erkrankung wie eine Lungenentzündung nicht behandeln“, sagt Grewe.
Welcher Schluss für die eigene Patientenverfügung gezogen werde, was für sich selbst lebenswert oder nicht sei, könne beim Thema Wachkoma nur vor dem Hintergrund großer Unsicherheit über das Erleben in diesem Zustand getroffen werden. Das Nichtwissen auf dem Gebiet ist einfach viel zu groß“, schlussfolgert Grewe. „In allen Berufsgruppen herrscht letztlich große Unsicherheit.“
Wachkoma-Patient gab richtige Antworten
Britische und belgische Hirnforscher haben 2010 ein spektakuläres Experiment mit Menschen mit Hirnschädigungen durchgeführt, in dem sie Bewusstsein nachweisen wollten.
Es sollte zeigen, ob sie in der Lage sind, bewusst auf Fragen im Gedächtnis zu antworten, die ihnen gestellt werden, während sie im Kernspintomografen, „in der Röhre“ liegen. Hintergrund: Rund 40% der Wachkoma-Patienten werden angeblich falsch diagnostiziert. Abgegrenzt davon ist das „Locked-In“-Syndrom oder der „Zustand eines minimalen Bewusstseins“.
Die Wissenschaftler stellten den Teilnehmern Fragen, die sie mit „Ja“ oder „Nein“ im Gedächtnis beantworten sollten. Darunter waren Menschen mit Hirnschädigungen im „minimalen Bewusstseinszustand“, im diagnostizierten Wachkoma sowie eine Vergleichsgruppe gesunder Versuchspersonen. Das „Ja“ und das „Nein“ zeigt sich im Hirnscan an den veränderten Mustern der Gehirnaktivität, ohne dass der Patient äußere Regungen zeigen muss.
Da die Antworten „Ja“ oder „Nein“ zu kurz sind, um aktive Areale im Gehirn darzustellen, wurde das Nachdenken mit einem Kniff verlängert: Um auf Fragen der Forscher mit einem „Ja“ zu antworten, sollten sich die Teilnehmer vorstellen, wie sie einen Tennisball aufschlagen. Bei „Nein“ sollten sie sich vorstellen, wie sie durch ihre Wohnung gehen.
Das Ergebnis: Alle Gesunden antworteten richtig, wie zu erwarten war. Aber auch drei Personen mit schweren Hirnschädigungen. Davon ein Mann, bei dem Wachkoma diagnostiziert war. Er antwortete korrekt auf Fragen zu seiner Familie, zum Beispiel ob er Brüder hat oder der genannte Name seines Vaters korrekt ist.
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