Die Vergessenskurve

Wie Erinnerung funktioniert

Schon von weitem fällt sie auf. Golden glänzt die kurvenreiche, fünf mal fünf Meter große Skulptur auf dem Weg zur Mensa oder zur Bibliothek und zum SSC. Mitten auf dem Campus der Hochschule Fulda steht seit Anfang Dezember 2013 das Kunstwerk der argentinischen Künstler Dolores Zinny und Juan Maidagan. Dreht man sich um die eigene Achse, sieht man von hier aus  Gebäude der Hochschule aus vier Epochen: die alten Kasernen der Jahrhundertwende, die aus den 30er Jahren, Bauten aus den 70er und 80er Jahren sowie die im letzten Jahr eingeweihten drei Neubauten.

„Als wir diesen Campus zum ersten Mal gesehen haben, wurde uns schnell klar, es muss darum gehen Vergangenheit hervorzuholen, eine visuelle Vorstellung von Erinnerung zu geben“, berichtet Dolores Zinny. Die Vorgabe des Kunstwettbewerbs des Landes Hessen war, dass sich das Kunstwerk, das auf dem Campus der Hochschule Fulda errichtet werden sollte, mit der Konversion eines militärischen Geländes in eine zivile Nutzung beschäftigen solle.  „Wir wollten den Leuten nichts ‚Fertiges‘ vorsetzen, das nur eine Deutung zulässt. Die ‚Vergessenskurve‘ lädt zum Nachdenken ein, wir wollten die Subjektivität des einzelnen Betrachters ansprechen“, sagt Juan Maidagan.

Ebbinghaus‘ Hypothese

Wie kamen die Künstler auf die Idee zur ‚Vergessenskurve‘? Dolores Zinny erinnert sich: „Ich habe gesucht, wer zum Thema Vergessen/Erinnerung geforscht hat und bin so auf das Werk von Hermann Ebbinghaus gestoßen. Das hat uns zu dieser Skulptur inspiriert.“  Der Psychologe Hermann Ebbinghaus stellte 1885 die Hypothese von der exponentiellen Natur des Vergessens auf. Die Vergessenskurve veranschaulicht den Grad des Vergessens innerhalb einer bestimmten Zeit. Das Kunstwerk ist quasi eine dreidimensionale Grafik. Die waagerechte Achse entspricht der verrinnenden Zeit, die Senkrechte dem Grad der Erinnerungsmöglichkeit. Juan Maidagan erklärt: „Es ist ein Koordinatensystem, das zeigt, wie Erinnerung funktioniert.“

So nimmt das Werk Bezug nicht nur zur Geschichte des Ortes, sondern auch zur deutschen Historie. An einem Ort, an dem früher Soldaten ausgebildet wurden – ein großer Teil der Gebäude der Hochschule sind ehemalige Kasernen – studieren heute junge Menschen. Der Verlauf der Kurve in abfallenden Wellen zeigt auch, wie zum Beispiel die Erinnerung an schreckliche Ereignisse, etwa den Zweiten Weltkrieg, zunächst verdrängt wird und erst mit einem gewissen Abstand wieder an die Oberfläche kommt, in Intervallen wieder auftaucht und mit der Zeit immer schwächer wird. „Das haben wir selbst ja auch erlebt“, erzählt Dolores Zinny. „Wir waren gerade in New York, als 2001 nur wenige Häuserblocks entfernt Terroristen den Anschlag auf das World Trade Center durchführten. Zuerst waren wir geschockt. Dann haben wir funktioniert, der Alltag musste ja weitergehen. Erst nach einiger Zeit waren wir in der Lage zu reflektieren, was eigentlich passiert war.“

Dolores Zinny (1968) und Juan Maidagan (1957) sind in Argentinien geboren. Beide studierten an der Universität von Rosario; Dolores Zinny Kunstwissenschaft und Juan Maidagan Medizin. Von 1994 bis 2002 lebten sie in New York, seitdem wohnen und arbeiten sie in Berlin. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt, unter anderem bei der 50. Biennale in Venedig, im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt und im New Museum of Contemporary Art in New York.


Zur Website der Künstler: http://zinny-maidagan.com/

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