Entschädigung von Opfern interpersoneller Gewalt

Projektleitung: Prof. Dr. Beate Blättner

Mitarbeiterinnen:  Anna Grundel (M.Sc. Public Health) 
Siona Decke (B.Sc.)

Gefördert von: Hessische Hochschulen

Kooperation: Amt für Versorgung und Soziales (Fulda)
Hessisches Sozialministerium Landkreis Fulda

Laufzeit: 01.10.2009 – 31.10.2010

Publikationen

Grundel A, Blättner B (2011): Entschädigung von Opfern interpersoneller Gewalt im Raum Fulda. Studie zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) und der Verfahrenspraxis in der Opferentschädigung: Zusammenfassung der Ergebnisse. pg-papers 02/2011, Fulda. (ISBN 978-3-940713-02-5) 

Grundel A, Blättner B (2011): Geschlechtergerechte Chancen auf staatlichen Ausgleich? Eine Aktenanalyse von Anträgen auf Opferentschädigung. Gender 2011; 3:138-147. 

Grundel A; Blättner B (2011): Das Opferentschädigungsgesetz und die Verfahrenspraxis: Chancen und Barrieren für Opfer interpersoneller Gewalt. Soziale Sicherheit 2011; 8:245-253.

Hintergrund

Gewalt führt zu bedeutenden gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Folgen. Das Opferentschädigungsgesetzt (OEG) bietet Opfern von Gewalt aus Mitteln des Staates eine Entschädigung für die ökonomischen Schäden, die aus den erlittenen gesundheitlichen Folgen resultieren.

Die Chancen auf soziale Entschädigung durch das OEG und damit auf eine gesellschaftliche Anerkennung des erlittenen Unrechts, sind für Opfer von Gewalt gering. Nur ein kleiner Teil (ca. 4 %) der Personen, die wegen körperlicher oder sexualisierter Gewalterfahrungen Anzeige erstatten, stellen einen Antrag auf Opferentschädigung. Etwa jeder dritte bis vierte der gestellten Anträge wird bewilligt. Damit erhalten ca. 1-2 von 100 polizeilich registrierten Opfern körperlicher oder sexualisierter Gewalt eine soziale Entschädigung. Das OEG und seine einzelnen Regelungen scheinen sowohl unter direkt von Gewalt betroffenen Menschen als auch unter Menschen, die im weiteren Sinne mit Gewaltbetroffenen zu tun haben, nicht hin-reichend bekannt zu sein. 

Das OEG erfasst nicht alle Gewaltformen gleichermaßen. Strukturell scheint eine Benachteiligung in den Entschädigungschancen der Opfer von familiärer Gewalt bzw. Partnergewalt vorzuliegen und damit indirekt eine Benachteiligung von Frauen, vermutlich auch von Kindern und älteren Menschen. Zudem spiegelt der Tätlichkeitsbegriff des OEG nicht die Gesamtheit strafrechtlich relevanter Formen von Gewalt wider, die nachweislich zu gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen führen können (Beispiel Stalking).

Vorgehen

Unter den Fragestellungen, welche Formen interpersoneller Gewalt sich in den Anträgen auf Opferentschädigung finden, inwieweit eine gerichtsverwertbare ärztliche Dokumentation die Bearbeitung erleichtern könnte und welche Erkenntnisse über Folgen von interpersoneller Gewalt damit möglich sind, wurden die 209 Anträge auf Opferentschädigung, die im Jahr 2008 im Versorgungsamt Fulda abschließend bearbeitet wurden, analysiert. Ergänzend wurden Experteninterviews durchgeführt.

 

 

 

Ergebnisse

Anerkennungsverfahren in der Versorgungsregion Fulda dauern durchschnittlich 13 Monate, bei bewilligten Anträgen durchschnittlich 6 Monate länger als bei abgelehnten Anträgen. Eine zeitnahe Anerkennung und Entschädigung der Betroffenen kann somit nicht gewährleistet werden. Zwischen der Akuthilfe durch die Polizei oder psychosozialen Hilfeeinrichtungen und den Entschädigungsleistungen durch das OEG zeigt sich derzeit eine Lücke in der Opferhilfe. Die Möglichkeit der Soforthilfe durch das OEG nach §10 Abs. VIII BVG scheint in der Praxis nicht oder nur sehr selten genutzt zu werden. 

Die Bewilligungspraxis scheint sehr eng an strafrechtliche Verfahren gebunden zu sein. Von dem Recht der Entscheidung nach einer freien Beweiswürdigung wurde in der Bearbeitung selten Gebrauch gemacht. Die ärztliche Dokumentation wird bisher nicht zur freien Beweis-würdigung genutzt, obwohl sie theoretisch eine Erleichterung für die antragstellende Person und die Sachbearbeitenden bei dem Nachweis des Tathergangs darstellen könnte. Eine der Ursachen dafür liegt in der Unvollständigkeit der ärztlichen Dokumentationen. 

Aus dem gleichen Grund konnten gesundheitliche Folgen von Gewalt nur unvollständig er-mittelt werden. Gewalt scheint häufig mit Kopfverletzungen (betraf knapp drei Viertel aller ein-geschlossenen Fälle) verbunden zu sein. Psychische Folgen wurden am zweithäufigsten genannt, in weniger als jedem vierten Fall. Ökonomische Folgen ließen sich nicht ermitteln.

Das OEG zielt im Kern auf die Entschädigung gesundheitlich bedingter sozialer Folgen von Gewalt durch Rentenleistungen. Rentenansprüche bestehen in weniger als einem Drittel der bewilligten Anträge. Die Entschädigung von Therapiekosten wird im Regelfall durch eine Pauschale an die gesetzlichen Krankenversicherungen abgegolten, ohne spürbare Auswirkungen für Antragstellende die krankenversichert sind.

Schlussfolgerungen

Veränderungspotentiale sind auf zwei Ebenen zu sehen:

Eine Neuausrichtung des Opferrechts könnte: Anerkennung von Opfern ohne die automatische Verbindung mit Entschädigungsansprüchen beinhalten; Soforthilfe auf Basis einer glaubwürdigen Schilderung und Beweissicherung gewährleisten; Rentenzahlung in den seltenen Fällen nicht vermeidbarer, langfristiger Folgen sicherstellen.

Eine veränderte Verfahrenspraxis, auf Basis bestehender gesetzlicher Regelungen, könnte die Möglichkeit der freien Beweiswürdigung vermehrt anwenden und den systematischen Einbezug ärztlicher Dokumentation zur Beweiswürdigung vorsehen. Es wäre denkbar, in Hessen Schutzambulanzen zu beauftragen, Gutachten zur Sachverhaltsaufklärung anzufertigen und diese nach dem OEG zu finanzieren.